Besprechung vom 12.05.2020
Noch ist Polen ziemlich verloren
Ziemowit Szczereks Roman "Sieben" erzählt von einem Road-Trip durchs Land und dessen Klischees
Eine Landstraße wie jede andere, könnte man meinen. Doch nein, "die Sieben", der Ziemowit Szczereks Roman seinen Titel verdankt, ist viel mehr als das. Sie ist die "Königin unter Polens Straßen, Rückgrat des polnischen Staates". Sie durchläuft das ganze Land, von Süd nach Nord, und umgekehrt natürlich, doch wenn man mit Pawel, der Hauptfigur, unterwegs ist, gilt nur diese eine Richtung. Denn Pawel ist Journalist und fährt mit seinem Opel Vectra von Krakau nach Warschau, wo er einen wichtigen Termin hat.
Pawel arbeitet bei keinem renommierten Medium, sondern bei einem auf Fake News spezialisierten Internetportal, und man hat beim Lesen zunehmend den Verdacht, dass der wichtige Termin nur in seinem Kopf existiert, zumal Letzterer nach der vergangenen Nacht noch reichlich zugedröhnt ist. Am Vorabend war Halloween, und die Krakauer Altstadt hatte sich in "ein einziges großes Pub, ein Alko-Disneyland" verwandelt, bevor das wilde Treiben in Allerheiligen, das schönste aller polnischen Feste, überging.
Unterwegs lässt Pawel keine Gelegenheit aus, zu Alkohol und Drogen zu greifen, was ihn sehr gesellig, scharfsinnig und phantasievoll macht. Mit dem Ergebnis, dass seine Eskapade zu einer äußerst abenteuerlichen Fahrt durch die polnische Provinz und zugleich zu einem atemlosen witzig-respektlosen Monolog wird. Im Grunde ist es egal, worauf sich sein Blick richtet - alles, was er beschreibt, wirkt irgendwie verzerrt, karikiert, obwohl es eine messerscharfe Bestandsaufnahme der wahren Zustände in Polen ist. Schon die Landschaft, die er entlang der "Sieben" sieht - voller planloser Bebauung, hässlicher Architektur, kaputter Straßen und Viadukte, riesiger Werbetafeln und Graffitis, gigantischer Denkmäler kommunistischer Provenienz und billiger Bars -, wirkt auf ihn reichlich abstoßend. Gleichzeitig aber muss er sich eingestehen, dass er das ganze "Rumgepfusche" irgendwie mag.
Ähnlich geht es ihm mit den Menschen. Jede Begegnung bedeutet ein weiteres Beispiel von Provinzialität, Engstirnigkeit, Nationalismus oder Chauvinismus, oft gepaart mit dem Hang zur Nörgelei. Die einen sind unzufrieden, weil sie glauben, ständig übers Ohr gehauen zu werden, die anderen sehen in der Globalisierung die Quelle allen Übels und wünschen sich einen starken, wirtschaftlich unabhängigen Staat. "Polnische Banken, polnische Autos, polnische Computer, Streitkräfte", zählt einer auf, während ein anderer es mit schlichtem "überhaupt alles polnisch. Polnisches Polen" umschreibt. Diese Fixierung aufs eigene Land kennt Pawel zu Genüge, die Begegnungen helfen ihm aber, die Quellen dieser Fixierung besser zu verstehen, die Ängste und Phobien seiner Landsleute präziser zu benennen, zumal sich zu den realen Menschen, denen er begegnet, bald andere Gestalten gesellen.
Es ist schließlich Allerheiligen, der Tag der Toten, an dem die Vorstellung, dass einige von ihnen auf die Erde zurückgekehrt sind, keiner besonderen Phantasie bedarf. In Pawels Fall schon gar nicht, nachdem er sich nach einem Verkehrsunfall einer Gruppe von Hipstern anschließt, die ihn mit halluzinogenen Substanzen in Vollrausch versetzen. So dauert es auch nicht lange, bis er ein Schloss von monströser Hässlichkeit entdeckt, in dem etliche polnische Könige zu bewundern sind, und - von der Vision besessen, sie könnten lebendig werden und wieder all die Katastrophen herbeiführen, von denen es in der polnischen Geschichte wimmelt - ihnen allen den Kampf ansagt.
Von den historischen Dämonen ist es nicht weit zu den aktuellen. Etwa zu der Vorstellung, Putin griffe das Land an, zumal dieses Zentralpolen, durch das die "Sieben" führt, besonders stark die einstige Abhängigkeit von Russland in Erinnerung ruft: zu kommunistischen Zeiten, aber auch in den Jahren "Kongresspolens", in denen das Zarenreich hier das Sagen hatte. Also malt sich Pawel aus, wie russische Panzer "Reihen niedriger Pavillons mit Gemüsestand, Blumenladen, Döner, Klamotten zum Kilopreis, Kurzwaren und Gammelspelunke" zermalmen, und dieser assoziative Sprung von den Königen über Putin zum polnischen Kleinunternehmertum ist ebenso witzig wie nachvollziehbar.
Natürlich geht es hier auch um die Fragen, wie das Land in seiner jetzigen Form von den Nachbarn wahrgenommen wird und wie es heute um Polens Zugehörigkeit zum Westen beziehungsweise zum Osten steht. Wobei mit "jetzt" und "heute" die Zeit vor der Machtübernahme durch die nationalkonservative PiS-Partei gemeint ist, weil das Buch im Original 2014 erschien, und das, was in den nächsten Jahren politisch passieren wird, sich hier erst langsam abzeichnet.
Ähnlich chaotisch wie das Land ist die - von Thomas Weiler bravourös ins Deutsche übertragene - Form von Szczereks Romans, was aber eindeutig eine Stärke ist. Das Buch ist rasant, überdreht, absurd, gespickt mit literarischen und filmischen Verweisen, Eskapaden in die Popkultur, gedanklichen Spielen mit Stereotypen verschiedener Art, Reflexionen über nationale Komplexe, Träume und Phantasien. Schade nur, dass die Hauptfigur zu stark an Lukasz aus Szczereks erstem Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" erinnert. Auch der war ein Journalist mit Sinn fürs Absurde und Hang zum Zynismus, und auch der schrieb in jenem Gonzo-Stil, den er sich von Kerouac und Thompsons abgeguckt hatte. Es gibt indes einen Unterschied: Lukasz war in der Ukraine unterwegs, konnte also ohne schlechtes Gewissen dafür sorgen, dass alle seine Schilderungen den polnischen Klischees über das Nachbarland entsprachen. Pawel hingegen fährt durch Polen selbst und nimmt doch ein wenig Rücksicht auf die Gefühle seiner Landsleute.
MARTA KIJOWSKA
Ziemowit Szczerek:
"Sieben". Das Buch der polnischen Dämonen.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Voland & Quist Verlag, Dresden 2019.
272 S., geb.
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