Die Wahrheit hinter Nord Stream und wie deutsche Politiker zu Komplizen Putins wurden.
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Nord Stream 2 ist Teil des russischen Angriffskrieges in Europa. Die Erfolgsmethoden: ein mächtiges Netzwerk und strategische Korruption. Deutsche Behörden hintergehen die Bundeswehr und geben geheime NATO-Daten an Gazprom weiter. SPD-Ministerpräsidenten stellen sich in den Dienst des russischen Kriegstreibers. Erstmals porträtieren die Autoren alle wichtigen Personen der Affäre und decken die geheimen Machenschaften des Kremls auf.
Jahrelang kämpft die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau der russischen Ostsee-Pipeline und stellt sich in den Dienst Putins. Ungestört baut Gazprom in Deutschland ein korruptives Netzwerk auf. Steffen Dobbert und Ulrich Thiele enthüllen besorgniserregende Zusammenhänge: Warum fließen 200 Millionen Euro aus Moskau an die deutsche Ostseeküste? Weshalb gibt eine deutsche Behörde geheime NATO-Daten an Gazprom weiter? Wieso ignoriert die Bundesregierung ukrainische Warnungen vor einer Kriegseskalation? Und sie zeigen, wie dutzende Volksvertreter sich für die Energieaußenpolitik Putins einsetzen, wie ein Ex-Spion der DDR einen folgenschweren Deal mit Gerhard Schröder und Manuela Schwesig verabredet und wie ein geheimes Schiff in der Ostsee an der Fertigstellung der Pipeline arbeitet. Sie entlarven die Strategien, mit denen Putin die EU spaltet, die Ukraine schwächt und Entscheidungsprozesse in Demokratien manipuliert.
Besprechung vom 11.03.2025
Das Bundesland, das sich vom Kreml einspannen ließ
Ein faktenreiches Buch über die Geschichte von Nord Stream 2 bietet viele bisher unbekannte Details
Noch gibt es keine Bestätigung für die Medienberichte, der nicht zerstörte Strang der totgeglaubten Gaspipeline Nord Stream 2 solle mithilfe amerikanischer Investoren doch noch in Betrieb genommen werden. Sollte ein solcher Plan tatsächlich existieren, dürfte er in der EU auf erheblichen politischen Widerstand stoßen. Und die Lobbyisten der Pipeline hätten heute einen viel schwereren Stand als vor Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine im Februar 2022.
Bis dahin jedoch hatten sie große Teile der deutschen Politik auf ihrer Seite. Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel erklärte Nord Stream 2, ein zentrales Projekt der Energie-Geopolitik des Kremls, zu einem privatwirtschaftlichen Vorhaben - und das, obwohl seit Langem offensichtlich war, dass das russische Regime Gas und Öl als politische Waffen ansieht. Berlin verweigerte sich trotz massiver Proteste der Ukraine, Polens und der baltischen Staaten, erheblicher Bedenken der EU und scharfer Kritik aus den Vereinigten Staaten jeder ernsthaften Diskussion über die möglichen Auswirkungen des Baus von Nord Stream 2 auf die Sicherheit des Kontinents.
Neben nachvollziehbaren wirtschaftlichen Interessen deutscher Konzerne und politischen Fehleinschätzungen spielte dabei auch das eine Rolle, was die Journalisten Steffen Dobbert und Ulrich Thiele in ihrem Buch "Nord Stream. Wie Deutschland Putins Krieg finanziert" als "strategische Korruption" bezeichnen. Korruption ist hier nicht in einem engen strafrechtlichen, sondern vor allem in einem politischen Sinn gemeint. Die beiden Autoren zeichnen nach, wie die zum russischen Konzern Gazprom gehörende Nord Stream AG dank eines sorgfältig aufgebauten Netzes von Beziehungen mit Schmeicheleien, Druck und Geldflüssen in Deutschland politische Entscheidungen und das Handeln von Genehmigungsbehörden beeinflusst hat.
Im Zentrum ihrer Darstellung steht Mecklenburg-Vorpommern, das Bundesland, in dem Nord Stream 2 anlanden sollte. Im dortigen Landtag befasst sich derzeit ein Untersuchungsausschuss mit den Vorgängen bei der Gründung einer Landesstiftung, die vorgeblich dem Klima- und Umweltschutz dienen sollte, tatsächlich aber der Umgehung amerikanischer Sanktionen gegen Nord Stream 2 dienen sollte. Dobbert und Thiele schildern die von gezielter Täuschung der Öffentlichkeit begleitete Gründung der Stiftung mit vielen bezeichnenden Details. So hat die Stiftung schon Verträge mit der Nord Stream 2 AG geschlossen, bevor ihre Gründung Anfang 2021 vom Landtag überhaupt beschlossen wurde.
Die Klimastiftung ist indes nur der Schlussakt einer Geschichte, die schon seit ihrem Beginn im Frühjahr 2013 - nicht ganz anderthalb Jahre nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 1 - von vielen Merkwürdigkeiten begleitet war. Das Grundgerüst der Fakten dieser Erzählung ist öffentlich bekannt, war aber bisher noch nicht zusammenhängend so gut strukturiert und lesbar dargestellt worden wie in diesem Buch. Dessen eigentliches Verdienst besteht indes in den vielen zuvor unbekannten Details, die Dobbert und Thiele zutage gefördert haben. Sie machen sichtbar, wie bereitwillig sich Politik und Behörden in Mecklenburg-Vorpommern für ein Vorhaben des Kremls einspannen ließen, über das es in einem im Buch zitierten vertraulichen Papier des Wirtschaftsministeriums heißt: "Direkten Nutzen für MV gibt es außer den temporären Arbeitsplätzen nicht. Auch kein 'billiges' Gas. Das wollen wir nach außen aber nicht sagen. Das Projekt ist für unsere russischen Aktivitäten atmosphärisch gut."
Es war schon immer offensichtlich, dass die von der Bundesregierung und den beteiligten Unternehmen bis 2022 wie ein Mantra vorgetragene Behauptung, Nord Stream 2 sei ein privatwirtschaftliches Vorhaben, nicht der Wahrheit entsprach. Kein Infrastrukturprojekt dieser Größenordnung kann unpolitisch sein - und schon gar nicht, wenn dahinter ein Konzern wie Gazprom steht, der im Dienste des russischen Regimes handelt. Dobbert und Thiele zeigen in ihrem Buch auf, dass Nord Stream 2 auch auf deutscher Seite von Anfang an in Wirklichkeit ein politisches Projekt war.
Im Interesse von Nord Stream 2 war Mecklenburg-Vorpommerns Regierung bereit, Umweltskandale zu vertuschen und ökologische Standards zu senken. Bei der Sicherheitsüberprüfung der Rohre ließen sich die Behörden des Bundeslandes darauf ein, statt der üblichen Verfahren eine von Nord Stream gewünschte billigere Methode zuzulassen. Ständiger Begleiter des Genehmigungsverfahrens sind Interessenkonflikte der handelnden Personen. Und als ein roter Faden zieht sich durch die ganze Geschichte von Nord Stream 2 der Einsatz einstiger Stasi-Agenten für russische Interessen.
Manches, was Dobbert und Thiele schreiben, lässt einem den Atem stocken. So etwa der Umgang mit der Bundeswehr. Sie hat Sicherheitsbedenken gegen Nord Stream 2 vorgetragen, da die Leitung durch ein Gebiet führte, das die Marine unter anderem für Schießübungen benötigt. Statt der Bundeswehr die von ihr geforderten technischen Daten über die Pipeline zur Prüfung der Gefahrenlage vorzulegen, forderte Nord Stream 2 seinerseits von der Bundeswehr detaillierte Informationen über ihre Übungen, die verwendeten Waffensysteme und die technischen Merkmale der eingesetzten Munition - angeblich, um damit eigene Berechnungen anzustellen. Es ist schon unglaublich genug, dass das in russischem Besitz befindliche Unternehmen in dieser Forderung von deutschen Behörden unterstützt wurde. Aber es kommt noch besser: Das zuständige Bergamt Stralsund gab ihm als Verschlusssache übermittelte Daten der Bundeswehr an Nord Stream und externe Gutachter weiter und veröffentlichte sie schließlich sogar in einem Planfeststellungsbeschluss im Internet. Der russische Militärgeheimdienst dürfte hoch erfreut gewesen sein.
Ein Mangel des Buches ist die in journalistischen Büchern leider oft anzutreffende Neigung, Ereignisse so zu beschreiben, als wäre man dabei gewesen. Das soll Authentizität schaffen, unterminiert sie aber in Wirklichkeit. Es ist für die Geschichte irrelevant, ob bei einem Treffen in der Staatskanzlei in Schwerin alle bei guter Stimmung Kaffee getrunken haben. Wer kann schon sagen, ob es tatsächlich so war? Wichtig sind allein die Ergebnisse, für die die Autoren Belege anführen können.
Die politische Aufarbeitung der Geschichte von Nord Stream 2 hat noch nicht richtig begonnen. Die wichtigsten politischen Fürsprecher der Pipeline in Mecklenburg-Vorpommern sind im Amt, als sei nichts geschehen: Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, Innenminister Christian Pegel und Umweltminister Till Backhaus. In ihrem Handeln findet sich mehr als nur ein Rücktrittsgrund. Noch wichtiger als personelle Konsequenzen wäre aber das Erkennen von Einfallstoren, über die eine autoritäre Macht Einfluss in Deutschland nehmen konnte. Das Buch von Steffen Dobbert und Ulrich Thiele ist ein wichtiger Beitrag zur nötigen Aufklärung. REINHARD VESER
Steffen Dobbert, Ulrich Thiele: Nord Stream. Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2025. 400 S.
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