Ein Internat und seine Schüler in der Vorweihnachtszeit bieten reichlich Gelegenheit zur Analyse menschlicher Eigenarten: Kurz vor den Weihnachtsferien proben die Schüler fleißig das Theaterstück Das fliegende Klassenzimmer. Aber auch sonst ist die Vorweihnachtszeit alles andere als ereignislos.
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Ein Zimmer auf Zeitreise
Ein Roman, vier Filme: Kästners "Das fliegende Klassenzimmer" zeigt schon der fünften Generation von Deutschen ihre Gesellschaft - und wie sie gerne wäre.
Von Jörg Thomann
Dieser Wagen, hieß es 1968 in einem Werbefilm über den VW Käfer, "läuft und läuft und läuft . . ." Der Siegeszug des deutschesten aller Autos endete dennoch 2003, mehrere Neuauflagen erwiesen sich als erfolglos. Ein anderer deutscher Klassiker, der Kinder ebenso begeistert wie der niedliche Käfer, hat diesem da etwas voraus. "Das fliegende Klassenzimmer" fliegt und fliegt und fliegt. Seit 90 Jahren reist es durch Deutschland, nach einem bemerkenswert zuverlässigen Zeitplan: Ungefähr alle 20 Jahre hebt es von Neuem ab.
Seine Reise begann 1933 als Roman von Erich Kästner und setzte sich 1954 und 1973 in den Kinos fort. Die nächste Verfilmung, hier gerät der Turnus durcheinander, folgte erst 2003; mit dem brandneuen Film, der jetzt erscheint, ist der 20-Jahre-Rhythmus wiederhergestellt. Immer neue Generationen haben den stets hungrigen Matz kennengelernt und seinen Freund Uli, der sich, um nicht mehr als Feigling dazustehen, tollkühn in die Tiefe stürzt, ihren väterlich-gütigen Lehrer Johann Bökh sowie dessen lang verschollenen Jugendfreund Dr. Robert Uthoff, den die Kinder, da er in einem ausrangierten, entsprechend beschrifteten Eisenbahnwaggon haust, "den Nichtraucher" nennen.
"Das fliegende Klassenzimmer" ist nicht das meistverfilmte Buch von Erich Kästner; das ist wohl die Zwillingsgeschichte "Das doppelte Lottchen". Das "Klassenzimmer" aber dürfte wirkmächtiger sein, schon weil es zum besonders populären Genre der Schulgeschichten zählt; Schüler ist oder war schließlich jeder einmal, Filme wie "Die Feuerzangenbowle", die "Pauker"-Reihe der 1960er- und 1970er-Jahre oder "Fack ju Göhte" wurden Kassenschlager. Das gilt auch für "Das fliegende Klassenzimmer" in seinen verschiedenen Varianten. Anhand der Evolution dieses Werks über die Jahrzehnte lässt sich eine kleine deutsche Film- und Gesellschaftsgeschichte schildern, die uns Aufschluss gibt über Kindheit und Erwachsenenleben, Moral und Männlichkeit, Schule und Freundschaft im Wandel der Zeit.
1933: Wer den Unfug nicht verhindert.
Im Mai 1933 sieht Erich Kästner in Berlin mit an, wie die Nazis seine Bücher verbrennen. Sieben Monate später kommt sein Kinderroman "Das fliegende Klassenzimmer" in die deutschen Buchläden. Das ist erstaunlich, doch ein Schreibverbot war Kästner noch nicht erteilt worden. Und wenn das "Klassenzimmer" auch keine direkte Kritik an der noch jungen Diktatur übt, so wirkt vor deren Hintergrund Kästners sanftmütige Utopie doch subversiv. "Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind, wird das zu spüren sein, was irrtümlicherweise schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit", heißt es in dem Buch, erschienen zu einer Zeit, in der Deutschland mutwillig einen unvorstellbaren Rückschritt vollzieht.
Wenn Kästner im Vorwort bittet, zu bedenken, "wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können", dann sind hieran noch nicht die Schrecken der NS-Herrschaft schuld. Sondern, im Falle des kleinen Adelssprosses Uli, sein Kummer darüber, als Angsthase zu gelten. Martin Thaler wiederum, der wegen seines Gerechtigkeitssinns von allen respektierte Klassenprimus, leidet unter der Armut seiner Eltern, die ihm zu Weihnachten kein Zugticket für die Heimreise schicken können. Der sarkastische Sebastian Frank überspielt mit Spott seine Einsamkeit. Jonathan "Johnny" Trotz schließlich lernt schon mit vier Jahren, wie grausam die Welt sein kann, als sein Vater ihn von New York aus mit dem Dampfer nach Deutschland abschiebt - zu Großeltern, die, wie der Vater genau weiß, längst verstorben sind. Mit zehn landet Johnny im Internat des Johann-Sigismund-Gymnasiums zu Kirchberg, wo er als Verfasser des Weihnachtsstücks "Das fliegende Klassenzimmer" reüssieren wird.
"Dieser kleine Tertianer ist nicht die Hauptfigur des Buches", schreibt Kästner über Johnny, und das ist insofern nicht falsch, als es eine klare Hauptfigur gar nicht gibt. Zu den vielen prägnanten Nebenfiguren, deren Schicksal man stattdessen verfolgt, zählt auch der Erzähler selbst, der um den seinerzeit schon sehr prominenten Schriftsteller Erich Kästner eine Rahmenhandlung gestrickt hat, in welcher dieser sich im Hochsommer am Fuße der Zugspitze müht, ein Winterbuch zu schreiben.
Es gibt in diesem Roman, was wiederum utopisch anmutet, auch keinen echten Bösewicht. Gut, da sind die mit den Gymnasiasten rivalisierenden Realschüler, die in einem durchaus klassenkämpferischen Kleinkrieg dem von ihnen entführten Deutschlehrersohn Rudi Kreuzkamm alle zehn Minuten sechs Ohrfeigen verpassen; bis zu seiner Befreiung kommen da einige zusammen. Der Anführer der "Realisten" namens Egerland aber zeigt sich als edler Krieger, der, als seine Truppe die Regeln verletzt, sich selbst als Geisel anbietet. Sogar "der schöne Theodor", ein Primaner, der die Jungen gern schikaniert, erweist sich im Laufe des Romans als lernfähig.
Die Erwachsenen im "fliegenden Klassenzimmer" sind durchaus Autoritäten, dies allerdings dank ihrer Menschlichkeit; gerade im Lehrerkollegium dürfte so etwas nicht erst 1933, sondern auch schon davor exotisch gewesen sein. Der Hauslehrer Bökh wird nicht umsonst "Justus" genannt, der Gerechte, und auch der als komischer Kauz gezeichnete Professor Kreuzkamm folgt einem klaren Wertekompass. Dem Deutschlehrer ist es vorbehalten, der Klasse - und den jungen Lesern - die entscheidende moralische Lektion mit auf den Weg zu geben. Nachdem ein paar Mitschüler Uli in einen Papierkorb gesetzt und diesen an der Decke befestigt haben - selbst Ulis starker Kumpel Matz hat es nicht verhindern können -, lässt er alle Schüler fünfmal den Satz schreiben: "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern." Man kann heute gar nicht anders, als dies als Mahnung an die Deutschen zu lesen; dass die Naziverbrechen jedes Maß dessen sprengen sollten, was sich unter Unfug resümieren lässt, konnte Kästner noch nicht wissen.
Die Entstehungszeit des Romans lässt sich an einzelnen Begriffen festmachen. Bei "Penne" denken heutige Kinder höchstens an die Schulkantine, und den Schlachtruf der Jungs - "Eisern!" - verstehen nur noch Fans des Fußballklubs Union Berlin. Ein pummeliger Kamerad wird ungeniert "Fässchen" getauft, die Institution des Internats den Lesern als "Schülerkaserne" vorgestellt, und in die Schlacht mit den Realschülern schickt der Nichtraucher die Truppe in Kolonialherrenart mit den Worten: "Nun macht aber, dass ihr auf den Kriegspfad kommt, ihr Hottentotten!"
Mädchen übrigens kommen gar nicht vor, auch wenn im Theaterstück eines mitspielt; die Rolle aber wird, mit Zöpfchenperücke, von Uli übernommen. Ausgerechnet das kleine Mädchen erzürnt dann mit einem vorwitzigen Kommentar den bösen Pharao, wird dessen Gefangene und muss von den anderen befreit werden.
Ein Happy End gibt es hier für wirklich alle Beteiligten, dabei klang es im Vorwort so, als wollte der Autor die Leser aufs Schlimmste vorbereiten: "Ohren steifhalten! Hornhaut kriegen! Verstanden?", heißt es da. "Ihr sollt hart im Nehmen werden, wie die Boxer das nennen. Ihr sollt lernen, Schläge einzustecken und zu verdauen." Kästner hat es gewiss nicht so gemeint, doch diese Worte lassen sich heute wie die Einstimmung auf eine unbarmherzige, entbehrungsreiche Kriegszeit lesen. Und die Verzweiflungstat Ulis, der mit einem Regenschirm von der Turnleiter springt - was ihm einen Beinbruch, aber endlich auch den Respekt der anderen einbringt -, wie eine Metapher für jene Himmelfahrtskommandos, auf die mit meist viel weniger Glück später so viele junge Soldaten geschickt wurden.
1954: Männer ohne Vergangenheit.
Wäre es nach Erich Kästner gegangen, dann hätte man seinen Kinderroman schon viel früher verfilmt, die Geschichte aber wollte es anders. So kommt "Das fliegende Klassenzimmer", in Kufstein und Kitzbühel gedreht vom Komödienspezialisten Kurt Hoffmann, erst im September 1954 in die Kinos. Im Juli ist Deutschland Fußballweltmeister geworden, schneller als erhofft also ist man wieder wer, doch die dunkle Vergangenheit bleibt unausgesprochen präsent.
Der gütige Lehrer Dr. Bökh mutet in Hoffmanns Schwarz-Weiß-Verfilmung äußerlich wie die Karikatur eines Paukers an: eng sitzendes Jackett überm gedrungenen Körper, randlose Brille, akkurates Schnurrbärtchen. Bökhs Darsteller Paul Dahlke verleiht ihm einen bisweilen schneidigen Duktus, vor allem aber die Gestalt eines anständigen, etwas linkischen und auch einsamen Junggesellen, der abends fürsorglich den Vogelkäfig abdeckt und danach melancholisch aus dem Fenster seines kärglichen Turmzimmers blickt.
Im Roman werden der Nichtraucher und sein Lehrerfreund als Mittdreißiger beschrieben. Paul Dahlke ist beim Dreh fast 50, sein Kollege Paul Klinger - der als Nichtraucher mit Hut und Spitzbart wie ein Jägersmann anmutet - auch schon 46. Martin Thalers Eltern sehen eher wie seine Großeltern aus; Willy Reichert, der den Vater spielt, ist schon 57. Warum, fragt man sich, wurden keine jüngeren Darsteller besetzt? Womöglich weil von ihnen zu viele auf dem Schlachtfeld gefallen waren?
Dahlke und Klinger dagegen hatten auf der sogenannten Gottbegnadeten-Liste des goebbelsschen Propagandaministeriums gestanden und damit unter besonderem Schutz des Regimes; Selbiges galt für Bruno Hübner (Kreuzkamm) und für Erich Ponto, der schon in der "Feuerzangenbowle" zu sehen war und im "Klassenzimmer" den alten Sanitätsrat spielt. Der Kameramann Friedl Behn-Grund wiederum hatte im Dritten Reich Propagandafilme gedreht, allerdings 1946 auch den ersten Trümmerfilm "Die Mörder sind unter uns".
Wie mochte sich Erich Kästner in dieser Gesellschaft gefühlt haben? Der Autor hat nicht nur das Drehbuch beigesteuert, sondern spielt, nicht uneitel, in der Rahmenhandlung sich selbst - den Erfolgsschriftsteller, der mit Bierglas und Zigarette auf der Blumenwiese an seinem Roman arbeitet und seinen sächsischen Akzent ("Kirschberg") nicht ganz verbergen kann. Doch auch Kästner selbst hatte sich mit dem Regime arrangiert und, wenn auch unter Pseudonym, das Drehbuch für den NS-Vorzeigefilm "Münchhausen" geschrieben.
Im Gegensatz zu ihren Darstellern sind die Filmfiguren Männer ohne Vergangenheit, jedenfalls ohne diese ganz bestimmte; vom Krieg ist keine Rede. In der noch jungen Nachkriegszeit gewinnt die eigenartige Geschichte des Nichtrauchers gleichwohl an Plausibilität. Aus der Bahn geworfen durch den Tod von Frau und Tochter bei deren Geburt, ist der Mann für Jahre verschwunden, kehrt irgendwann zurück in die Heimat, doch nicht in sein altes Leben: Nicht wenige Kinobesucher von 1954 dürften dies als Kriegsheimkehrerschicksal lesen.
Eine Leerstelle seines Romans hat Kästner nun gefüllt, indem er zumindest eine kleine Frauenrolle ins Drehbuch geschrieben hat: Die Schulkrankenschwester Beate darf Kaffee und Kuchen servieren und als love interest des Nichtrauchers dessen seelische Wunden heilen.
Die Kinderdarsteller werden im Vorspann nach den Erwachsenen genannt, die Jungen tragen ordentliche Scheitel. Einer von ihnen ist der gerade 15 Jahre alte Peter Kraus, der später als Deutsch-Rock-'n'-Roller berühmt wird. Fast alle großen Hauptrollen, erinnert sich Kraus im Gespräch mit der F.A.S., seien "mit Kindern von Leuten aus der Branche besetzt" worden. Der Dreh sei "ein großes Erlebnis" für ihn gewesen, auch wenn er mit dem Buch seine Schwierigkeiten gehabt habe: "So spricht kein Jugendlicher, habe ich immer gesagt. Ich sollte einen Satz sagen wie ,Du bist doch mein Freund', der kam mir nicht so richtig über die Lippen. Wir waren da viel burschikoser."
Wie im Buch erteilt der kauzige Kreuzkamm den Schülern eine moralische Lektion, die Kästner nun leicht abgewandelt hat: "An all dem Unfug, der hierzulande oder auch anderswo zustande kommt, sind nicht nur die Anstifter schuld, sondern auch diejenigen, die ihnen nicht widersprechen." Hierzulande und auch anderswo - dieser Einschub klingt, angesichts der 1954 längst nicht beigelegten Kriegsschulddebatte, einigermaßen exkulpatorisch.
1973: Die neue deutsche Leichtigkeit.
Endlich geht es wirklich in die Luft. Gleich die erste Einstellung des Remakes von Werner Jacobs zeigt eine Boeing am Himmel; ganz geglückt ist das freilich nicht, denn der Fensterrahmen des zweiten Flugzeugs, aus dem gefilmt wird, rückt mehrfach ins Bild. Unübersehbar ist aber auch der Geist des Aufbruchs, der sich durch diesen Film zieht. Beschwingte Orchestermusik ersetzt die minimalistischen Mundharmonikaklänge, die den Vorgänger von 1954 prägten, und wo jener einen düsteren, schwarz-weißen Winter zeigte, spielt der 1973er-Film in einem farbsatten Sommer. Die Jungs tragen T-Shirts, benutzen Wörter wie "Scheiße", "Furz" und "Idi" und schütteln ihre langen Haare zur Popmusik aus dem Radio. Den fernsehenden Kindern der Siebziger - der Film ist etliche Male ausgestrahlt worden - muss dieses Internatsleben ungemein aufregend erschienen sein; es gibt in dieser Schule, dem Bamberger Aufseesianum, sogar ein Freibad. In der neuen Leichtigkeit erscheinen auch die Konflikte entschärft. Die Antipoden sind keine Realschüler mehr, sondern Externe, die statt im Internat zu Hause schlafen; in Egerlands Zimmer hängt ein Hendrix-Poster. Der entführte Rudi kassiert weiterhin sechs Ohrfeigen am Stück, das aber wenigstens nicht mehr alle zehn Minuten, sondern jede halbe Stunde. Neues weibliches Mitglied im Ensemble ist Rudis Schwester, sie hat romantische Bande zum schönen Theodor geknüpft: Erstmals wird im "Fliegenden Klassenzimmer" geküsst. Auch die Hartherzigkeit, die dem kleinen Johnny widerfährt, wird abgemildert: Es wartet nun wirklich eine Großmutter auf ihn, die auf dem Weg zum Flughafen aber tragischerweise bei einem Verkehrsunfall stirbt. Der ältere Jonathan jedoch meistert sein Los mit Bravour: Anders als einst vom hier weder am Drehbuch noch als Schauspieler beteiligten Kästner intendiert, ist er eindeutig eine Hauptfigur und der Anführer der Jungen. Auf ihn hat man den Gerechtigkeitssinn und die Entschlusskraft Martins übertragen, welchem als nunmehr einzige Eigenschaft sein Fleiß verblieben ist. Zum bekannten Schauspieler wird es in der Folge keiner der Jungdarsteller schaffen, die hier zum Teil nachsynchronisiert worden sind. Dass Uli unüberhörbar mit der Stimme einer jungen Frau redet - nämlich mit derjenigen Christina Hoeltels, die auch die Muppet-Show-Figur Scooter spricht -, dürfte das junge Publikum durchaus irritiert haben. Joachim Fuchsberger als Bökh ist zwar grau meliert, er wirkt mit seinem offenem Hemd und seiner geschmeidigen Art trotzdem viel jünger als seinerzeit Paul Dahlke. Mit diesem coolen Lehrer lässt sich auch nach 1968 kein Generationenkonflikt ausfechten. Als Signum des Erwachsenendaseins immerhin lässt man Fuchsberger, wie auch Heinz Reincke als Nichtraucher, Pfeife rauchen. Nicht Lehrer Kreuzkamm, sondern der Nichtraucher äußert diesmal das bekannte Unfug-Zitat: Er kritisiert damit sich selbst, weil er sich, als Frau und Kind im Sterben lagen, gegen eine womöglich lebensrettende OP entschieden hat. So existenziell jene (Fehl-)Entscheidung für ihn auch gewesen sein mag: Das moralische Fundament, auf das Kästner das "Klassenzimmer" setzte, ist damit aus der Geschichte getilgt. Dasselbe gilt für die Armut. Zwar können Martins Eltern ihm nach wie vor kein Ticket zahlen, doch geht es in diesem Fall um ein weit teureres nach Kenia, wo sie sich ein neues Leben aufbauen möchten. Kein Problem für Ulis Millionärseltern, die kurzerhand der ganzen Klasse einen Flug nach Mombasa sponsern. Mit einer über den Himmel gleitenden Boeing endet dann auch dieser uneingeschränkt optimistische Film, der uns von der großen weiten Welt träumen lässt. Klimawandel und Flugscham sind Wörter aus einer fernen Zukunft.
2003: Die Klassenfrage ist zurück.
Wo findet man im Jahr 2003 noch ein reines Jungeninternat? In Leipzig. Die Produzenten des Films haben die Geschichte ans Internat des dort ansässigen Thomanerchors verlagert. In seinem 70. Jahr ist "Das f liegende Klassenzimmer" damit in der sächsischen Heimat seines Schöpfers angekommen. Kästners Vorlage, heißt es einschränkend im Vorspann, folgt der Film nur noch "frei". Die Namen der Kinder werden nun zuerst genannt. Jonathan Trotz ist jetzt ein einstiges Findelkind, dessen Eltern, worauf eine Notiz voller Rechtschreibfehler hindeutet, aus prekären Verhältnissen stammen; aus unterschiedlichen Gründen ist er schon von sechs Schulen geflogen. Sebastian Frank, dessen beißender Witz über die Jahrzehnte bereits entschärft worden ist, heißt nun Kreuzkamm und ist Sohn des Schuldirektors. Der Lehrer ist befördert worden, doch er ist, dargestellt vom Komiker Piet Klocke, schrulliger denn je. Martin darf wieder ein Leader sein. Der auffälligste unter den längst nicht laienhaft agierenden Kinderdarstellern ist ein sommersprossiger Berliner, der den Matz spielt. 20 Jahre später wird dieser Frederick Lau zu den etablierten Stars des deutschen Kinos zählen. Gravierender abgewandelt ist die Erwachsenengeschichte. Keine persönliche Tragödie hat den von Sebastian Koch verkörperten Nichtraucher veranlasst, seine Heimat und seinen besten Freund Johann zu verlassen, sondern der Drang nach Freiheit - in seiner Jugendzeit schließlich lag Leipzig in der DDR. Er ist kein Aussteiger aus der Gesellschaft mehr, sondern aus einem repressivem System. Warum er nach seiner Rückkehr niemanden kontaktiert hat? Aus Scham. Seine Flucht nämlich hatte massive Folgen auch für seinen Freund, der das Internat verlassen und Mechaniker werden musste. Erst nach der Wende hat es Johann (Ulrich Noethen) in seinem alten Internat zum Kantor geschafft. Die Einbettung in die deutschdeutsche Geschichte verleiht der Männerfreundschaft nicht nur neue Tiefe, sie gibt Bökh auch die Gelegenheit, sich statt als Moralapostel erstmals als fehlbarer Mensch zu zeigen. Als er mitkriegt, dass die Schüler das Stück "Das f liegende Klassenzimmer" aufführen möchten, dessen Manuskript sie im Nichtraucher-Waggon gefunden haben, gerät er aus der Fassung und, gar nicht Justus-like, verbietet es ihnen. Und zwar nicht, weil den Chorleiter die Rap- und Breakdance-Elemente stören, sondern weil den Text sein verlorener Freund verfasst hat, was allzu schmerzliche Erinnerungen weckt. Da die Handlung nun wieder im Winter spielt, tragen die Choristen ihre Fehde mit den Externen ausschließlich per Schneeballschlacht aus, martialische Massenprügeleien sind nicht mehr zeitgemäß. Der Mitschüler namens Fässchen ist rätselhafterweise ein zarter, schmaler Junge. Uli springt statt mit einem Schirm jetzt mit zwei Luftballons in die Tiefe, bricht sich aber auch dabei traditionsgemäß das Bein. Der schöne Theodor ist ein pickeliger Brillenträger und bleibt ungeküsst, anders als Dr. Bökh, der mit der Choreographin Kathrin endlich auch einmal das Liebesglück erlebt. Regie hat Tomy Wigand geführt, das Drehbuch aber stammt von drei Frauen, von Henriette Piper, Franziska Buch und der Mitproduzentin Uschi Reich. Gewiss auch deshalb gibt es erstmals eine weibliche Hauptrolle. Die Externen werden immer noch von Egerland angeführt, das aber ist hier ein Mädchen; diese Mona wird - altersbedingt noch komplett unschuldige - Bande zu Jonathan knüpfen. Mit Mona, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter und vier Geschwistern in einem schäbigen Plattenbau lebt und aus Geldnot zur Ladendiebin wird, kehrt auch die alte Klassenfrage in das Werk zurück. Für das Glück indes muss man nicht mehr ganz so hoch hinaus wie 1973: Statt in einem Flugzeug endet der Film mit Mona und Johnny, die vom Hausdach auf den Himmel über Leipzig schauen.
2023: Die Sanften und Sensiblen.
Die Regisseurin Carolina Hellsgård ist für "Das fliegende Klassenzimmer" eine überraschende Wahl. Als Schwedin wuchs sie mit Astrid Lindgren auf statt mit Kästner, zu ihren früheren Werken zählt ein feministischer Zombiefilm. Ein wenig wirkt ihre "Klassenzimmer"-Verfilmung, die jetzt ins Kino kommt, als habe man den Roman durchgeschüttelt, sodass alle Wörter und Figuren herauspurzelten, und diese bunt vermischt in ein Drehbuch gepackt. Es ist vieles noch da und doch alles irgendwie anders. Nostalgiker mag das verstören. Man dürfe, sagt Regisseurin Hellsgård zur F.A.S., aber nicht vergessen, "dass sich diesen Film eine neue Generation anschaut. Für sie ist es wichtig, dass er die Gesellschaft zeitgemäß widerspiegelt." Martin Thaler ist jetzt Martina. Sie lebt in einer Berliner Hochhaussiedlung, stemmt anstelle ihrer in Nachtschichten schuftenden, alleinerziehenden Mutter den Haushalt und fährt Skateboard - und zwar, es schauen schließlich Kinder zu, mit Helm. Mit der Aussicht auf ein Stipendium tritt sie die Reise zu einem Internat in den Bergen an. Nach Bamberg und Leipzig spielt die Geschichte nun wieder in Kirchberg, gedoubelt vom malerischen Südtiroler Städtchen Glurns. Im Internat trifft Martina auf Uli, Matze (nun mit e) und - nein, nicht auf Johnny, sondern auf Jo, der beziehungsweise die nun ebenfalls ein Mädchen ist. Erstmals weiblich ist auch Kreuzkamm; die Schulleiterin wirkt mit ihrer linkischen Art und der riesigen Brille wie eine Schwester Lisi Schnabelstedts aus "Fack ju Göhte" und wird charmanterweise gespielt von Hannah Herzsprung - deren Vater Bernd war in der 1973er-Verfilmung der schöne Theodor. Rudi Kreuzkamm ist jetzt Ruda und, klar, ein Mädchen. Einen Sebastian gibt es nicht, in den Reihen der Externen aber einen - wiederum weiblichen - Sebi. Ob ihr voller Name Sebastiana lautet? Weil man die Lebenswelt heutiger Kinder abbilden möchte, ist der Cast generell diverser. In der Klasse sitzen selbstverständlich Kinder mit dunkler Haut, Jos Mutter ist Brasilianerin - und auch sie hat ihr Kind im Stich gelassen wie einst der Vater den kleinen Johnny. Der Erzähler aber ist männlich, und als er die Geschichte erwähnt, die er geschrieben hat, fragt man sich kurz, ob hier wohl der alte Kästner sprechen soll. Es ist jedoch der Nichtraucher (Trystan Pütter), der auch hier ausgiebig raucht, das aber - alles andere wäre in einem Kinderfilm des Jahres 2023 skandalös - mit schlechtem Gewissen: "Ich will schon lange aufhören!" Tom Schilling als Bökh ist keine pädagogische Lichtgestalt, sondern ein Pedant und Pünktlichkeitsfreak, den Jo einen "unglücklichen Spießer" nennt. Wie im Roman stellt Bökh den Schülern einmal die kuriose Strafe in Aussicht, sie dürften ihn 14 Tage lang nicht grüßen; für das enge Vertrauensverhältnis zwischen ihnen, das dies erst als wirkliche Drohung erscheinen ließe, gibt es im Film allerdings - zunächst - nur wenige Anzeichen. Bei ihrem späten Wiedersehen fallen sich die Männer nicht gleich in die Arme: Sie sind verkracht, und nur so ergibt ihre Geschichte heute halbwegs Sinn. In einer Zeit, da praktisch jeder zu ergoogeln und per Handy erreichbar ist, stehen einer Freundschaft nicht mehr weite Distanzen oder verlorene Adressbücher im Wege, sondern einzig die Verletzungen, die man einander zugefügt hat. Gewalt ist bei den Konflikten der Schüler weniger denn je eine Lösung, weshalb der starke Matze seinen Zweikampf erstmals in 90 Jahren verlieren muss. Der Geisel der Externen, diesmal ist es Jo, bleiben jegliche Ohrfeigen erspart. Selbst bei ihrer Massenprügelei agieren In- und Externe mit derart gebremstem Elan, dass abgehärtete Schulhofgangs die Handyvideos davon gelangweilt löschen würden. Man trage, sagt Hellsgård, "eine große Verantwortung, Gewalt nicht zu romantisieren". Im Geiste Kästners räsoniert Pütter über Mut und Klugheit, in einem anderen Punkt widerspricht er dem Autor: "Es kommt im Leben nicht darauf an, Hornhaut zu kriegen." Sondern auf Freundschaft und kindliche Phantasie auch im Erwachsenenalter. "Denn mit Träumen kann man f liegen", versichern Schilling und Pütter in einem Deutschrockduett. "Eine Botschaft des Films ist: Was am Ende bleibt, das sind die Beziehungen und Freundschaften zu anderen Menschen. Das ist das, was wir haben. Das sind wir", sagt die Regisseurin. So trägt "Das f liegende Klassenzimmer" auch in seiner 2023er-Variante bei aller demonstrativen Modernität Züge einer nostalgischen Utopie. Und man würde es den heutigen Kindern ja wünschen, dass sie mit Träumen und Freunden, mit Mut und Klugheit, mit Sanftmut und Sensibilität die Herausforderungen einer unruhigen Realität bewältigen, die sich partout nicht utopisch anfühlen mag. Vermutlich kann es trotzdem nicht schaden, zusätzlich ein wenig Hornhaut auszubilden.
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Die Reise des "fliegenden Klassenzimmers" dürfte damit nicht zu Ende sein. Der nächste Film müsste 2043 anstehen, zwischendurch feiert es seinen hundertsten Geburtstag. Noch hat Kästner den Deutschen etwas zu erzählen, und auch wenn man ihm nicht mehr in jeder Hinsicht folgen mag: In seinen Welten und seinen Helden werden sich immer wieder junge Menschen wiedererkennen.
Unter www.faz.net/klassenzimmer finden Sie u.a. Interviews mit Peter Kraus und Carolina Hellsgård. "Das fliegende Klassenzimmer" 2023 läuft ab Donnerstag im Kino.
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