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Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen. Aber wer ist hier schon ohne Schuld? Der Roman der preisgekrönten mexikanischen Autorin Fernanda Melchor erzählt die Geschichte eines Verbrechens: roh, ohne tropische Restmagie, ein schneller, heftiger Schlag.
Am Rand des Paradieses ist das Wasser schlammgrün. Jede Nacht sitzen sie unten am Fluss und trinken bis zur Besinnungslosigkeit: der übergewichtige blonde Franco, der in der Luxus-Anlage Paradise wohnt, und der sechzehnjährige Polo, der dort als Gärtner arbeitet. Doch Franco ist kein Freund, er braucht Polo nur, um seine grotesken sexuellen Phantasien auszubreiten. Die drehen sich obsessiv um eine einzige Frau: die unerreichbare Nachbarin Señora Marián. Polo bleibt trotzdem sitzen und säuft: um die Plackerei, die Herabwürdigungen zu ertragen, um nicht zurück ins Dorf zu müssen, wo alle für die Drogenmafia arbeiten - und ihn seine schwangere Cousine und die Vorwürfe seiner Mutter erwarten. Die Nachbarin wolle ihn verführen, sagt der Dicke, er müsse mit ihr schlafen, notfalls mit Gewalt. Polo hält das für lächerliche Hirngespinste, aber allmählich wird er vom stummen Saufkumpan zum Komplizen. Und wittert seine Chance auf den großen Ausbruch . . . Mit unheimlicher Wucht erzählt Fernanda Melchor, wie aus Begehren etwas Finsteres, Aggressives, Lebensgefährliches entsteht. Ein hochexplosives Gemisch aus unüberbrückbaren Klassenunterschieden, Frustration und Frauenhass durchdringt »Paradais« in jedem Satz - bis in die letzte Ritze, bis zum irrwitzig flackernden Ende.

Produktdetails

Erscheinungsdatum
19. August 2021
Sprache
deutsch
Seitenanzahl
139
Reihe
Quartbuch
Autor/Autorin
Fernanda Melchor
Übersetzung
Angelica Ammar
Verlag/Hersteller
Originaltitel
Originalsprache
spanisch
Produktart
kartoniert
Gewicht
224 g
Größe (L/B/H)
212/131/14 mm
Sonstiges
Englisch Broschur
ISBN
9783803133380

Portrait

Fernanda Melchor

Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz/Mexiko geboren, studierte Journalistin, gehört zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas. Für ihren zweiten Roman »Saison der Wirbelstürme« erhielt sie 2019 den Anna-Seghers-Preis, den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt und stand auf der Shortlist des International Man Booker Prize. Der Roman erlebte zahlreiche Nachauflagen und wurde in 15 Sprachen übersetzt. 2021/22 ist Melchor Stipendiatin des DAAD in Berlin.

Pressestimmen

»Fernanda Melchors Romane sind wahrscheinlich das Beste, was wir heute aus Lateinamerika lesen können. «
El País

Besprechung vom 15.09.2021

Die Sklaverei des Narkokapitalismus
Willkommen in der mexikanischen Dorfhölle: Fernanda Melchors Intimpanorama der Einsamkeiten und giftigen Begierden

Das Paradies an sich ist schon nicht auszuhalten. Doch im Garten des Paradieses den Rasen mähen zu müssen ist die Hölle auf Erden. Mit dieser Einsicht ist der sechzehnjährige Polo konfrontiert, Hilfsgärtner des Paradieses. Dieses ist natürlich im Idiom des gelobten Landes im Norden auszusprechen: Paradais. So lautet gemäß Polos brüchig alphabetisiertem Hörverständnis der Name einer gated community irgendwo am Golf von Mexiko. Hier hat der Geldadel von Veracruz sich verbunkert. Mit dem Flammenschwert werden all die aus ihm vertrieben, die mit der eigentlichen Erbsünde befleckt sind: über kein Erbe zu verfügen.

Besitzlose, Hungerleider und Versager, so wie Polo, sind allenfalls als Dienstleister geduldet. Als "Personal", wie sein ausbeuterischer Chef, Verwalter Urquiza, es nennt, während er sich diskret die Trinkgelder seiner Untergebenen in die eigene Tasche steckt. Für Polo kommt das ohnehin auf dasselbe hinaus: Sein Gehalt wird von der prügelfreudigen Mutter einkassiert. Durch Beziehungen zur Paradiesverwaltung hat sie ihn ja in diesen Arbeitsplatz gezwungen, damit er, Schulabbrecher und Nichtsnutz, irgendetwas zum Unterhalt der Familie beiträgt. Zumal Zuwachs vor der Tür steht. Seine Cousine hat sich hochschwanger in den Haushalt eingenistet. Und was Polo bang fürchtet, was die Mutter nicht ahnt: um womöglich Polos eigenes Kind auf die Welt zu bringen. Dem Horror dieser ärmlichen Dorfhölle nur einen Steinwurf jenseits von Eden sucht Polo nach Dienstschluss zu entkommen. Statt nach Hause zu fahren, besäuft er sich mit Franco Andrade, dem verwahrlosten gleichaltrigen Spross einer der Paradiesbesitzer-Familien. Auch Franco klammert sich an den allabendlichen Absturz. Playstation und Pornovideos im Netz bilden sonst die einzige Alternative in Einsamkeit und endlosen Öden des Edens.

Ein solches Paradais könnte das sozialrealistische und metaphernschwere Schwarz-Weiß-Gemälde von Ausbeutern und Ausgebeuteten in einem sozial engagierten Drama ergeben. Könnte sich die Fortsetzung von Buñuels jugendlichen Vergessenen in der neoliberalen Gegenwart auf die Fahnen schreiben. Die literarische Geglücktheit, aber zugleich das Unheimliche des Romans von Fernanda Melchor besteht darin, sich diesen Mechanismen engagierter Wohlgemeintheit zu widersetzen. Den stereotypen Manichäismus von Tätern und Opfern, von gierigem Eigennutz und Not der sozialen Umstände unterwandert die Autorin von der ersten Seite an. Denn das giftige Paradies, das von den Fluten des von Industrie- und Düngerückständen verseuchten Río Jamapa durchströmt wird, ist auch für diejenigen eine Hölle, die es als Herrscher bewohnen. Die Täter sind selbst Opfer und treiben gerade so die Opfer zur Täterschaft.

Erlebbar wird dies exemplarisch am pubertierenden Franco: Pickelig, fettleibig, fistelstimmig, ein von Pornoseiten besessener Jungalkoholiker, ist "der Dicke", "El Gordo", wie Polo ihn stets nur abschätzig nennt, alles andere als der Gewinner des Systems, zu dem ihn seine Herkunft als Sohn eines Staranwalts eigentlich prädestiniert. Noch dazu wird Franco verzehrt von einer frenetischen Begierde nach der mittelalten Mutter der Nachbarskinder. Gehemmt und verklemmt, schüttelt er sich sein verzweifeltes Sehnen in stundenlangen Masturbationsstafetten vom Leib und nutzt die Treffen mit Polo als Übungen in gymnastischer Verbalerotik.

Doch die Fantasie drängt nach Inkarnation, den Worten sollen Taten folgen. Und dafür braucht er einen Komplizen. Voll Verachtung für seinen jämmerlichen Gleichaltrigen - mehr denn voll Ressentiment gegen den Klassenfeind - und zugleich begierig nach Kriegsbeute lässt sich Polo locken. Schließlich wäre sein wahrer Traum, sich ganz freiwillig der Narko-Gruppe anzuschließen, die seinen Cousin Milton nur unter Folter zum Beitritt gezwungen hat. Er hat nichts zu verlieren. Und auch kein Gefühl der Reue, kein Gefühl der Verantwortung. "Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen", lautet der erste Satz des Buches und das rekurrente Credo.

Wie schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Saison der Wirbelstürme" ist Fernanda Melchor in ihren messerscharfen Szenen aus dem Leben in der Provinz, wie Balzac es genannt hätte, in jedem Moment eindrücklich, präzise und zugleich hoffnungslos. In einer klaustrophoben Welt, deren einzige Wahlmöglichkeit zwischen der Freiheitsberaubung durch entfremdete Arbeit, durch Drogenkartelle oder aber durch die privaten Kerker der Familienmachtstrukturen besteht, bleibt keinerlei Option auf selbstbestimmtes Handeln. Im Narkokapitalismus ist die moderne Sklaverei zur Wirklichkeit geworden und Hölderlins Vers "Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen" ihre schulterzuckende Staatsdoktrin. Anders als in dem breiter angelegten Panorama ihres vielfach preisgekrönten vorigen Romans entwirft Fernanda Melchor allerdings kein figurenreiches Provinzinferno. Fast kammerspiel- oder auch novellenhaft macht sie ihren zwei Hauptfiguren innerhalb der Zäune Edens eine Intimhölle heiß. Das nimmt dem Erzählten einerseits etwas Farbe, lädt es aber mit minimalistischer Intensität auf.

Gezielt polt Melchor dabei insbesondere die angestammten Muster der Schilderung von Sexualität, Gewalt und sexualisierter Gewalt um. Francos Fantasien oder Polos frenetische Kopulationen wider Willen bewegen sich in einem sprachlichen Register, das lang unter dem Schlagwort "Schmutziger Realismus" von Charles Bukowski bis Pedro Juan Gutiérrez ein unhinterfragtes Monopol männlichen Schreibens war. Meist als Glorifizierung einer vitalen männlichen Sexualität. Bei Fernanda Melchor bringt ebendieses männliche Begehren seine vergiftende Tödlichkeit ans Licht.

Dabei stellt sie nicht selten die Vorläufer auch an expliziter - und von Angelica Ammar höchst glaubwürdig ins Deutsche übertragener - Drastik der Darstellung noch in den Schatten. Vom Vitalismus der dirty old men bleibt nur die Ruinenlandschaft einer zutiefst fragmentierten männlichen Sexualität, die das tägliche Gewalterlebnis spiegelhaft reproduziert. Wenn Klaus Theweleits Männerfantasien eine künstlerische Ausgestaltung im 21. Jahrhundert suchten, fänden sie in Fernanda Melchors Prosa ihre gleichermaßen meisterliche wie hypnotisch abstoßende Transposition. FLORIAN BORCHMEYER

Fernanda Melchor: "Paradais". Roman.

Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 144 S., br.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

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LovelyBooks-BewertungVon Nicolai_Levin am 25.10.2024
Knallige Milieustudie aus Mexiko
LovelyBooks-BewertungVon MaternaKuhn am 14.05.2024
Die Katastrophe lauert überall Wenn es eine Autorin mit zwei ihrer vier Romane auf die Short List des Internationalen Booker Price schafft, lässt das aufhorchen. Vielleicht geschah diese Huldigung auch ein Stück weit deshalb, weil Fernanda Melchor Mut hat. Obwohl sie an manchen Schauplätzen ihrer Romanhandlungen aus Angst um ihr Leben nicht recherchieren konnte, schreibt sie dennoch über all die brutalen Drogenkriege, die allgegenwärtigen Misshandlungen von Frauen und die deprimierende Ohnmacht gegenüber den endlosen Missständen in ihrer Heimat Mexiko. So tut sie es auch in ¿Paradais¿.Der Titel ist bereits die pure Ironie. Das Leben in dem kleinen mexikanischen Städtchen ist alles andere als paradiesisch. Jeder kämpft in einer Atmosphäre der Angst um seine nackte Existenz. Ganz anders auf der anderen Seite des Flusses in der Paradais-Wohnanlage. Dort haben sich geschützt von Mauern und Wachpersonal die Schönen und Reichen in ihren Villas verschanzt. Die Protagonisten des Romans sind gleichzeitig die Repräsentanten dieser gesellschaftlichen Ambivalenz. Da ist der sechszehnjährige Polo, der aus armen Verhältnissen stammt, nachts auf einer Bastmatte in der Küche seines Elternhauses schläft und tagsüber als Gärtner für die Reichen arbeitet. Sein Traum ist es, Bandenmitglied zu werden, sein Trost ist der Alkohol. Sein gleich junger Kumpane wider Willen ist Franco, der mit seinen reichen Großeltern im Paradais-Resort lebt, jedoch wegen seiner überdimensionalen Fettsucht und einer verunstaltenden Akne völlig isoliert ist. Sein Trost sind der Konsum von Porno-Filmen zu jeder Tages- und Nachtzeit und die Beobachtung seiner schönen Nachbarin, mit der er in seiner von der Pornowelt geprägten Vorstellung seinen Phantasien nachgeht.Zufällig finden die beiden Jungen am Fluss zusammen. Der mittellose Polo bedient sich an den von Franco finanzierten Alkoholika, muss sich aber im Gegenzug Abend für Abend dessen Verbal-Pornographie anhören. Eine auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz untypische und tendenziell eher gutartige Koexistenz, bis eines Tages¿In der glaubhaft realen Geschichte ist es nicht der erhobene Zeigefinger, der die Autorin ausmacht, sie ist nie arrogant oder besserwisserisch, was die sozialen Bedingungen und ihre Kausalitäten betrifft. Ihr Roman ist eher ein literarischer Hilfeschrei, mit dem Fernanda Melchor sehr eindrücklich auf die alltägliche Realität ihres Landes aufmerksam macht. Und es ist ihr atmosphärisch genau dazu passender Schreibstil. Träge wie der die Welten trennende, breite, dunkle Fluss strömt auch die Handlung über weite Strecken dahin. Trostlos, perspektivenlos, aber zu keinem Zeitpunkt langatmig oder gar langweilig. Durch schier endlose Bandwurmsätze aggraviert Melchor diese Stimmung, jedoch nie im hypotaktischen Stil eines Thomas Mann hochkompliziert verschachtelt, sondern durchaus verständlich, zielführend, deskriptiv dahinschwebend, Bilder erzeugend, den Leser mitnehmend. Ihre Sprache ist schmutzig, schonungslos vulgär, aber dann auch wieder romantisch-ästhetisch und immer voller situationsadäquater Empathie.Es erfüllt mich immer mit Genugtuung, wenn ein Buch nicht wirklich kategorisiert werden kann, da dies meines Erachtens für die Vielseitigkeit, den Facettenreichtum und die innovative Qualität einer Autorin oder eines Autors spricht. In welches Genre also presst man Paradais, wenn es denn unbedingt sein muss? Zeitgenössischer, gesellschaftskritischer Roman? Sicher. Kriminalroman? Sicher auch, aber eher mit dem Blick auf die Evolution einer Straftat. Also eine wunderbare Mischung, phasenweise mit einem Schuss ins Lyrische. Und ein Finale furioso, das jedem Hollywood-Thriller Ehre machen würde.Messages to take home? Sich zurückzulehnen und zu denken, dass ¿so etwas¿ nur in Mittelamerika passieren kann, wäre ein Trugschluss. Unregulierter Zugriff Jugendlicher und Kinder auf Pornografie und Gewalt als einzige Lösung in auswegslosen Situationen, kombiniert mit Trost- und Perspektivenlosigkeit, sind globale Phänomene. Auch neben uns. Polo meint gegen Ende des Romans, dass sein einziges Ziel sei, endlich frei zu sein, auf welche Art auch immer. Aber wie schon Janis Joplin einer ganzen Generation auf den Weg gab: ¿Freedom is just another word, for nothing left to loose¿.