Besprechung vom 28.08.2024
Im Namen der Mutter
Giosuè Calaciuras Roman "Ich, der Sohn"
Es begab sich aber zu der Zeit, dass Josef fortzog von seiner Frau Maria und dem Kind Jesus. Und dies geschah, als Jesus halbwüchsig war, und es behagte ihm nicht, und er klagte: "Vater, warum hast du mich verlassen?" Und so verstrichen zwei Jahre, bevor er sich auf die Suche machte nach Josef dem Tischler.
Diese Suche lässt Giosuè Calaciura in seinem Roman "Ich, der Sohn" den dreißigjährigen Jesus in Rückschau erzählen. So beginnt das Bezugsspiel zu jener Bibelfigur, die als Jesus Christus bekannt ist. Calaciura füllt die Lücke, die in den vier Evangelien zwischen Geburt und Passionsgeschichte klafft. Sein Jüngling schließt sich dem Wanderzirkus des Hallodris Barabbas an, verliebt sich in die schöne Tänzerin Delia und findet dank seiner Eloquenz rasch in die Rolle als flötespielender Conférencier. Irgendwann erwischt er Barabbas und Delia in flagranti, zürnt und leidet, und als er sich ausgetobt hat, sind die beiden durchgebrannt. Jesus beendet die Vatersuche und kehrt zur Mutter zurück. Unterwegs rammt er sich vor Wut einen Ast ins Handgelenk. Die Narbe gibt Maria neuen Stoff, die Mär um ihren Sohn auszuspinnen.
Der russische Schriftsteller Oleg Sobern hat 2018 seinen ersten Roman vorgelegt, "Jesus Christus - Die Autobiographie". Bei ihm gibt es eine Herausgeberfiktion samt altem Manuskript, auch sein Jesus ist ein wortgewandter Bursche, ein Hedonist, der Beziehungen zu beiden Geschlechtern unterhält, obendrein ein reichlich durchtriebener Scharlatan. Wie Calaciura spielt Sobern mit den neutestamentlichen Stoffen, geht aber den schlichteren Weg einer Vermenschlichung von Jesus. Der zwanzig Jahre ältere, 1960 in Palermo geborene Italiener zeigt sich da raffinierter. Er klopft die Mythenbildung ab, jedoch nicht als Persiflage wie Monty Pythons "Das Leben des Brian" - Humor kennt Calaciuras Roman in keiner Form. Damit lässt er die Vorbehalte gegen die Kirche durchschimmern, die Gretchenfrage aber offen. Ein erstes Verdienst.
Was er schließlich vorlegt, ist eine Art umgekehrter Phantastik: Hält die sonst in der Schwebe, ob sich vermeintlich Übernatürliches nicht doch natürlich erklären lässt, zeigt Calaciura, wie diesseitige Vorkommnisse mystifiziert werden. Zeit und Umstände - Armut, Gewalt und Naturkatastrophen - verlangen nach einem Helden. Als Jesus bei einem Brand von Nazareth die Tonvögel eines Kindes aus dem brennenden Haus retten will, scheitert er zwar, doch der Kleine versichert in seiner Überreizung, er "habe sie davonfliegen sehen. Die Wahnbilder dieser Nacht hatten ein Wunder gezeitigt." Baustein für Baustein setzt sich der Mythos zusammen. Ob man an die Schlangenfrau in Barabbas' Zirkus oder an den Messias in der eigenen Mitte glaubt, ist einerlei. Calaciura geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er Maria ins Spiel bringt.
Sie "hatte, wie alle Frauen mit Kindern, die Gewissheit, dass ihr Sohn einst die Welt verändern würde." Entsprechend setzt sie ihren Sohn unter Druck. Die Mutter als Macherin hinter dem künftigen Star, die Eigendynamik von Zuschreibungen - all das stellt Calaciura denkanregend dar. Eine besonders originelle Wendung - sie sei hier nicht verraten - gelingt ihm, als Jesus seine entstellte Lebensgeschichte erstmals in aller Öffentlichkeit hört. Calaciura hat aber noch eine zweite Lesart in petto: Maria ist vergewaltigt und zur Ehe mit dem deutlich älteren Josef gedrängt worden. Mit Schande bedacht wurde das Opfer, nicht der Täter. Ein Messias als Sohn wäre die Erzählung, die auch ihr Trost spenden könnte.
Mit der Liebe zu der selbstbewussten Anna hofft Jesus allen Umklammerungen zu entkommen. Als sie stirbt, will er sich umbringen. Er hat den Strick bereits geknüpft, als Judas auftaucht. Sein Vetter Johannes, der längst eine Schar von Anhängern einer neuen Lebensweise um sich gesammelt hat, brauche ihn. Am Jordan, für Wasserrituale . . .
Calaciura zeichnet Jesus einerseits als anarchistischen Rebellen, andererseits als Element einer selbsterfüllenden Prophezeiung, mit der Maria ihn großgezogen hat. Am Ende entgleiten ihm die Fäden etwas, und er vermag nicht mehr klar zu scheiden: Will er von Verklärung erzählen oder von Verrohung? Das ist verzeihlich bei seiner ansonsten anregenden Geschichte. CHRISTIANE PÖHLMANN
Giosuè Calaciura:
"Ich, der Sohn". Roman.
Aus dem Italienischen
von Judith Krieg. Edition Converso, Karlsruhe 2024. 304 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Ich, der Sohn" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.