Warnhinweise
Besprechung vom 04.02.2025
Asyl im Land ohne Hut
Kindheit, die keine sein darf: Jean d'Amériques Roman "Zerrissene Sonne" ist ein poetischer Albtraum von der Bandengewalt in einem haitianischen Slumviertel.
Wie realistisch ist eine Geschichte, deren Protagonisten "Stille", "Wirrkopf", "Metall-Engel", oder "Orangenblüte" heißen und sich an einem Ort namens "Gottesstadt" in einer hybriden Realität zwischen Leben und Tod miteinander herumschlagen? Was mancherorts als Ausgeburt einer allzu überbordenden Phantasie gelten würde, wird in Haiti als Teil der Wirklichkeit akzeptiert. Tote können hier auferstehen, denn der Übergang zwischen Diesseits und Jenseits ist so wie der zwischen Realität und Traum - wenn überhaupt - ein fließender. Die Menschen haben sprechende Namen, weil alles mit allem zusammenhängt und Vorstellungen und Assoziationen mindestens so relevant für die Wirklichkeit sind wie das, was als evidenzbasierte Wahrnehmung gilt. Um es mit den kruden Worten eines der bekanntesten der zeitgenössischen haitianischen Literaten, Dany Laferrière, zu sagen: Wer einen Haitianer am Träumen hindern will, muss ihn erschlagen. Was das mit Literatur zu tun hat? Viel, denn es dürfte kein zweites Land in der Welt geben, in dem die Gleichzeitigkeit von elender Armut und grassierendem Analphabetismus einerseits und einer stupenden literarischen Kreativität andererseits so widersprüchlich ist wie in Haiti.
Zuletzt machte das Land in westlichen Medien allerdings mit der schauerlichen Geschichte über einen Bandenchef von sich reden, der aus Wut über die Krankheit seines Kindes rund 200 Bewohner eines Slums in Port-au-Prince der Hexerei beschuldigt und massakriert haben soll. Inwiefern diese mit Vorsicht zu genießende Nachricht nur allzu perfekt die gängigen Vorstellungen und Vorurteile bedient, ist das eine. Dass in den Slums von Haitis Hauptstadt Armut, Geisterglaube und Gewalt eine tödliche Mischung eingehen können, bleibt davon unberührt. Jean d'Amérique, dessen Debütroman "Zerrissene Sonne" über eine Kindheit, in der "uns nur noch die Straße in den Armen wiegt", unlängst im Verlag Litradukt in deutscher Übersetzung erschienen ist, zeigt, wie die Literatur zuweilen tatsächlich einen Ausweg aus diesem Elend bedeuten kann. "Was tun? Schreiben?", fragt sich seine Hauptfigur Tête Fêlée (dt.: "Wirrkopf") angesichts einer albtraumhaften Lebenswelt, und der Autor selbst scheint darauf eine Antwort zu geben. 1994 an der Südküste Haitis geboren, wuchs Jean d'Amérique unter prekären Bedingungen in Port-au-Prince auf, war sehr früh auf sich allein gestellt und schaffte es dennoch, mit Gedichtsammlungen wie "Kleine Ghetto-Blume" zunächst die Aufmerksamkeit und später auch Preisgelder der französischen Literaturszene zu gewinnen. In Paris, wo Jean d'Amérique heute lebt, erschien auch sein Debütroman über Tête Fêlée, das zwölfjährige Mädchen aus dem Slum, das nicht an Jahren altert, sondern an den Schreckensbildern der Bandengewalt, die sich in seinen Kopf brennen wie eine erbarmungslos gleißende Sonne.
Der Roman erzählt eine Geschichte des Elends in poetischen Worten, in der Missbrauch, Gewalt, Unterdrückung und Angst zu Taktgebern der "tödlichen Symphonie" eines Landes werden, "in dem alles gleichermaßen wahr und falsch ist." Unweit des Boulevards du Bicentenaire, benannt nach dem 200. Jahrestag von Haitis Unabhängigkeit, lebt Tête Fêlée in einem Raum gemeinsam mit ihrer Mutter Fleur d'Orange (Orangenblüte) und einem "Papa", dem Handlanger des örtlichen Bandenchefs namens "Metall-Engel". Sein Selbstverständnis in dieser Leidensgemeinschaft bringt Tête Fêlée so auf den Punkt: "Ich schlage, also bin ich." Unheil droht dem Mädchen, das sich selbst als "Allegorie auf tausendundeinen Ghetto-Kummer" versteht, nicht nur in ihrem Verschlag in dem von Gewalt beherrschten und einem Strom aus Müll durchzogenen Slumviertel "Cité de Dieu" (dt.: Gottesstadt), sondern auch an der Schule, wo der "Monsieur" Geschichtslehrer sich an ihr vergeht. Allein das ist harter Lesestoff, wobei Jean d'Amérique das schauerliche Szenario mit beißenden Metaphern, gnadenloser sprachlicher Wucht und kruden Handlungswendungen immer weiter zuspitzt. So weit, bis seine Geschichte zum Inbild einer Welt wird, in der Gerechtigkeit, Würde und Erbarmen nicht wegen, sondern trotz der Menschen möglich sind. Das Mädchen Tête Fêlée wird in diesen Überlebenskampf, in den Sog aus Habgier, Rache, und Unerbittlichkeit hineingezogen und glaubt dennoch, dass ihre letzte Hoffnung im "Asyl am Ende der Buchstaben" liegt.
Wie d'Amérique bitteren Sarkasmus und kindliche Unschuld in einem poetischen Gleichgewicht hält, sagt mehr über die widersprüchlichen Lebensrealitäten Haitis als die Lageberichte der zahllosen Hilfsorganisationen vor Ort. Die Übersetzerin Rike Bolte hat den Rhythmus dieser Sätze, in denen sich rohe Gewalt und pulsierendes Leben, Schönheit und Grauen wie die Stimmen einer Partitur überlagern, austariert und erfinderisch ins Deutsche übertragen. Der Tod ist in dieser verwobenen, manchmal fast grotesk unheilvollen Geschichte allgegenwärtig. Doch bevor auch die junge Protagonistin ins Jenseits gleitet, das die Haitianer auch "Land ohne Hut" nennen, wankt sie auf einem Flüchtlingsboot ihrer großen Sehnsucht nach, einer Klassenkameradin namens "Stille", die der Ganggewalt entkommen ist. Es ist diese Stille, die Jean d'Amérique in seiner magisch schwebenden Geschichte hörbar macht. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Jean d'Amérique:
"Zerrissene Sonne".
Roman.
Aus dem Französischen
von Rike Bolte. Litradukt Literatureditionen 2024, 114 S., br.
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