»Tiefsinnige und vielschichtige Science Fiction! « Phantastik-Bestenliste, zu Athos 2643
Henry Meadows wird zwölf, als die Erde stirbt. Mit seinem Vater und seinen Geschwistern reist er nach Perm, einem urzeitlichen Mond in einem fernen Sonnensystem. Henrys Mutter ist mit einem anderen Raumschiff geflogen. Sie wird von der Familie sehnsüchtig erwartet. Doch plötzlich mehren sich die Zeichen: Sie ist schon hier gewesen, vor langer Zeit. Und sie hat eine Warnung hinterlassen.
Mit Hightech trotzt die erste und einzige Kolonie der Menschheit der Natur des Mondes Perm, die faszinierend und bedrohlich zugleich ist. Hier gibt es Berge, die in den Weltraum ragen, zwei Arten von Nächten und eine gefährliche, unsichtbare Tierwelt. Als Henry ankommt, ist die neue Heimat noch nicht "fertig": Die Atmosphäre ist giftig und enthält zu wenig Sauerstoff, ohne Schutz ist ein Aufenthalt im Freien tödlich. Irgendetwas hat das Terraforming Perms verhindert. Henrys Mutter Mildred kennt den Grund. Die Wissenschaftlerin hat sich entschieden, nicht mit ihren Kindern zu fliegen, sondern einen neuen Antrieb abzuwarten, mit dem sie ihre Familie um Jahrtausende überholt. Sie will für die bestmögliche aller Welten sorgen. Dazu legt sie sich mit dem mächtigen Leiter des Unternehmens an, der ein anderes Ziel verfolgt. Ein Kampf entbrennt, der über das Leben von Henry und seiner Familie entscheiden wird - viele tausend Jahre später.
Besprechung vom 22.03.2025
Kinder, seid bitte kurz still, die Mutter sucht ganz neue Naturgesetze
Ein Meilenstein hiesiger Science-Fiction: In dem Roman "Lyneham" schickt Nils Westerboer die auf und an der Erde gescheiterte Menschheit ins kosmische Exil.
Von Dietmar Dath
Von Dietmar Dath
Wer kann, verlässt die sterbende Erde. Familien schlafen auf der Flucht durchs All jahrtausendelang in chemischen Betten, um den Mond Perm zu erreichen, der den Planeten Windleite begleitet. Die Meadows sind eine dieser Familien - Vater Charles, ein verantwortungsbewusster Pragmatiker, hat drei Kinder: Henry, der uns in Nils Westerboers Roman "Lyneham" das meiste erzählt (Einschübe stammen von Mutter Mildred), sein Bruder Chester, der zur Lyrik neigt, und beider kleine Schwester Loy, die allen Menschen und Maschinen Löcher in die Bäuche fragt. Die Mutter ist eine Forscherin, die sich auf Sachgebiete versteht, deren Gesetze das Überleben der Menschen auf Perm bestimmen werden, deshalb lässt sie Mann und Kinder vorausfliegen, um ihnen dann zu folgen, weil ein neuartiger, verbesserter Schiffsantrieb ihr erlaubt, die früher Abgereisten zu überholen und dann lange Zeit vor deren Ankunft Probleme in Angriff zu nehmen, die der Umsiedlung im Weg stehen: Wie passt man Perm den Menschen an, gegebenenfalls auch umgekehrt?
"Mit jedem Umlauf um seine Heimatwelt", erklärt das Buch, "wird der ganze Mond gestreckt und gestaucht, die Landmasse selbst erlebt Ebbe und Flut. Kein Grund steht still, immer wieder reißen die tieferen Schichten ein, und giftige Dämpfe steigen in die Atmosphäre auf. Es ist schwer, tektonisch ruhige Fleckchen zu finden, und ich bin gottfroh, dass uns das gelungen ist." Das kleine Wörtchen "gottfroh" will hier nicht überlesen sein. Denn der Autor des Romans kennt sich nicht nur aus mit Wärmelehre, Molekularbiologie, Himmelsmechanik, Planetenkrustentektonik und Maschinenethik (über die man kaum ein besseres Buch als seinen 2022 erschienenen Roman "Athos 2643" finden wird), sondern weiß als studierter Theologe viel über Unsichtbares.
So kann Westerboer insbesondere moralische Fragen differenziert behandeln: Die plumpe Gegenüberstellung "Licht gegen Finsternis" würde ihn unterfordern, Westerboer interessiert, welche verschiedenen Sorten Finsternis vorkommen, wo man vom Licht (dem schlechthin Guten, das sterbliche Wesen stets verfehlen müssen) getrennt lebt: "Gerade haben wir eine Windnacht. Das bedeutet, dass Perm unserem Stern den Rücken zuwendet, aber von der Windleite beschienen wird. Diese Nächte sind lang, stürmisch und vergleichsweise hell. Die andere Art von Nacht ist kürzer und dunkler, wir nennen sie die Tiefnacht. Während dieser Nacht durchläuft Perm den Kernschatten der Windleite."
Im Parazwielicht dieser Doppeldunkelheiten gedeiht eigenartiges lokales Leben: Sein Erbgut ist unserem ganz inkompatibel, es hat keine Augen, wir riechen es kaum (der unpassenden Rezeptoren wegen), es ist unsichtbar, denn seine Evolution "hat Fähigkeiten zur Tarnung auf einem Niveau hervorgebracht, das auf der Erde nur im Rahmen militärischer Hochtechnologie existiert hat." Evolution ist der iterative Immer-wieder-Vollzug des Dreischritts Mutation, Variation und Selektion, während Technologie die Produktion von Mitteln zu Zwecken ist. Welchen Zweck aber verfolgt, wer den Unterschied zwischen Evolution und Technologie verwischt wie in der eben zitierten Wendung?
In unserer Gegenwart wollen Techmilliardäre wie Peter Thiel, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos und Elon Musk auf die Restmenschheit einen Selektionsdruck ausüben, der diese nötigt, allerlei technischen Einrichtungen Schicksalscharakter zuzuschreiben, in einem Akt der Unterwerfung unter die Götzen Habgier und Herrschsucht (was wir tun müssen, um ihnen zu gefallen, ist situativ algorithmenabhängig, wie schon Moses und Aaron "nach dem Gesetz" etwa zwischen Schuldopfer und Sündopfer unterscheiden mussten). Nils Westerboer denkt Musk und Konsorten in die Zukunft weiter, dafür steht in "Lyneham" der Wagniskapitalist Noah Rayser, eine Art Hernán Cortés des futuristischen Kolonialmonopolkapitals. Um diesen batteriesauren Mann und sein Treiben in der und rund um die Perm-Siedlung Lyneham, die dem Buch den Namen gibt, ordnet Westerboer ein paar sozialspekulative Extrapolationen an, deren interessanteste Kraftlinien zwischen dem Conquistador und Mildred Meadows verlaufen. Verstehen wollen die Welt beide, aber Rayser will das Verstandene kapitalisieren, Mildred dagegen möchte es einerseits sozial produktiv machen, hat andererseits aber Zweifel am Sozialen an und für sich, an den Menschen. Dieser Gegensatz existiert heute bereits in der Realität; am Beispiel der antagonistischen Weltraumerschließungskonzepte von einerseits Elon Musk und andererseits der großen Science-Fiction-Autorin Octavia Butler wird er etwa in dem lehrreichen Comic "Who Is Afraid of Degrowth?"(2024) von Céline Keller erläutert.
Die betreffende Frontstellung wird oft verkompliziert durch scheinfortschrittliche Verbrämungen der Habgier- und Herrschsuchtideen zwischen "Blockchain Governance" und rechtslibertärem Anarchokapitalismus, während Westerboer die Dinge so klar sieht, dass selbst seine Roboter - etwa eine zwischendurch als Lehrerin der Koloniekinder eingesetzte Maschine namens "Frau Strom" - instruktiv alte Rätsel der kooperativen Spieltheorie vereinfachen, bis sie nach Echos der geheimnisvollen Feststellung von Marx und Engels klingen, "Privateigentum" sei bloß ein anderer Ausdruck für Arbeitsteilung. In der Tat: Was genau hat die Verfügung über anderer Leute (und anderer Wesen) Mühe mit Habgier und Herrschsucht zu tun? Das sind die Sorgen, die an Mildred zerren, sie aber nicht kaputtkriegen.
Die Statur dieser Mutter und Wissenschaftlerin ist das Zentrum des Romans, Herz und Geist, im Konflikt mit sich selbst und miteinander, faszinierende Uhrwerke aus Sprache: "Ich habe mich seit jeher bemüht, auf alles gefasst zu sein", bekennt Mildred janusgesichtig, und ein härteres Knirschen als das zwischen Bemühen und Gefasstheit wird man im deutschen Haltungsvokabular kaum finden. Selbst und gerade da, wo sie großen Unsinn denkt, spricht Mildred in Worten oder Taten Wahrheiten aus - ihr Ringen mit Rayser etwa lehrt sie zwar, dass Wissen entgegen der Redensart nicht Macht ist, aber sie weiß auch, dass die Ohnmacht einer Wissenden sie immer wieder zu neuen Erkenntnissen treibt. Die Verflechtung solcher Widersprüche mit der übrigen Handlung stellt bei der Lektüre eine eigenartige Nähe zu Mildred her, bis ins Abwegige: Dass "Kontakt" zwischen Materie eine Illusion sei, leitet sie aus der Atomphysik ab; die Winde auf Perm nimmt sie als Tragödienmusik wahr ("Bocksgesang" nennt sie das, denn "Lyneham" ist ein sehr anschlussreiches Buch). Und als ihr jemand vorhält: "So machst du dir keine Freunde, Mildred", erklärt sie sich für sozialbankrott: "Die hatte ich auf der Erde schon nicht. Warum sollte das hier anders sein?"
Ein Intellektuellenkopf wie ihrer ist zwar nicht einsamer als jeder andere, aber er kann sich schlechter darüber betrügen, dass er einsam ist, weil er nicht mit der mentalen Möbelmassenware eingerichtet ist, die anderen oft ein Verbundensein mit dem Gemeinwesen suggeriert. Mildred hat sich ihre Begriffsregale selbst gebaut; manchmal ächzen, manchmal brechen sie unter der Gedankenlast. Das Kaputte an ihr ist indes das Produktive, es ist ihr Reichtum, das, was sie zu geben hat. Auch damit steht sie nicht allein, jedenfalls in der Science-Fiction. Als Isaac Asimov, einer der Begründer der klassischen Epoche dieses Genres, sich um 1940 fragte, wie wohl ein Intellekt beschaffen sein müsste, der den Risiken der Verwissenschaftlichung des gesamten sozialen Lebens gewachsen sein würde, die Asimov um sich her erlebte, erfand er die Roboterpsychologin Susan Calvin, seine wohl größte Schöpfung.
Mildred Meadows ist ihre Nachfahrin; sie leidet Nöte, die mit existenziellen Fragen ganzer Gattungen (nicht nur der menschlichen) in Konstellationen stehen, die man kaum erschöpfend erklären, wohl aber erhellend erzählen kann, wie Westerboer beweist. "Lyneham" will wissen: Können wir Anomalien ertragen, die wir in unbekannten Kontexten vorfinden? Dass wir das können, ist keineswegs ohne weitere Befragung unserer Weltsicht und Praxis vorauszusetzen, denn wir sind für unser Überleben auf Vergleiche und Musterprägungen angewiesen, die tief ins Konnektom unseres Denkapparats eingesenkt sind und der Verarbeitung solcher Anomalien harte Grenzen setzen.
Der Romancier versucht es schließlich mit einer Einbettung des Menschenschicksals in eine Natur, die sich nicht begradigen, vielleicht nicht einmal verstehen lässt. Dass diese Einbettung gelingt, enthält womöglich eine fürs Gelingen der Erzählung unvermeidliche petitio principii; der Schöpfer der Welt, in der die Figuren diesen Lösungsversuch unternehmen, ist ja der Romancier selbst. Der Rezensent kann sich dem Denkweg dahin nicht ganz sorgenfrei überlassen, er möchte darauf bestehen, dass es im weiten Kosmos Wüsten gibt, die zu bezwingen wir nicht nur das Recht, sondern gegenüber unseren Nächsten auch die Pflicht haben. Selten jedoch hat ein Autor mehr als Westerboer aus der Wahrheit herausgeholt, dass sowohl göttliche Gnade als auch menschliche Technik "wider die Natur" (Paulus im Römerbrief 11:24) sind, während zugleich gilt: "Alle Kreatur", die sichtbare wie die unsichtbare, "sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar" (im selben Brief, 8: 22).
Abermals also leistet Nils Westerboer mit "Lyneham" einen unverwechselbaren Beitrag zur gegenwärtigen, von Leuten wie Aiki Mira, Theresa Hannig und ihm getragenen Hochblüte deutschsprachiger Science-Fiction.
Nils Westerboer:
"Lyneham". Roman.
Hobbit Presse bei Klett Cotta, Stuttgart 2025.
496 S., br.
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