Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen. Denn es ist die Arbeit, durch die Gesellschaften ihren Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Arbeitspolitik ist daher für Simon Schaupp stets auch Umweltpolitik - oder »Stoffwechselpolitik«. Dabei spielt die Natur selbst eine aktive Rolle: Je weiter ihre Nutzbarmachung vorangetrieben wird, desto drastischer wirkt sie auf die Arbeitswelt zurück.
Wie produktiv diese Perspektive ist, zeigt der Soziologe an einer Vielzahl historischer Beispiele: Ohne Moskitos sind weder Aufstieg noch Niedergang der Plantagenwirtschaft zu verstehen. Die Durchsetzung der Gewerkschaften wurde unter anderem durch die neuen Machthebel möglich, welche die materiellen Eigenschaften der Steinkohle den Beschäftigten an die Hand gaben. Und in frühen Schlachtfabriken setzten streikende Arbeiter die Unternehmer unter Druck, indem sie die eben eingeführten Fließbänder zum Stillstand brachten, so dass sich bald die verwesenden Tierkadaver stauten. Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus: Wir müssen die Logik der expansiven Nutzbarmachung überwinden und die Autonomie der Natur ernst nehmen.
Besprechung vom 30.08.2024
Wovon fossile Nostalgie nichts wissen möchte
Industriekapitalismus als Gewaltgeschichte: Simon Schaupp arbeitet an historischen Beispielen die Wechselwirkung von Natur und Arbeit heraus
Die gegenwärtige ökologische Krise ist das Ergebnis einer umfassenden Ausbeutung der Natur, insbesondere der Extraktion und Verbrennung von Rohstoffen wie Kohle und Erdöl. Darüber, dass der kapitalistische Wachstumsimperativ diese zerstörerischen Praktiken befördert, besteht heute weitgehend Einigkeit. Doch mit dieser Feststellung will Simon Schaupp sich nicht zufriedengeben. In seinem Buch will der Soziologe der treibenden Kraft des schonungslosen Wachstums auf den Grund gehen. Er folgt Marx in der Auffassung, dass allein die menschliche Arbeit der Motor dieses Wachstums ist. Mittels Arbeit transformieren wir die Natur in Güter und zerstören sie in diesem Prozess stetig: Wir roden Wälder, verpesten die Atmosphäre und dezimieren die Artenvielfalt. So gerät eine Steigerungsdynamik in Gang, in der die Nutzbarmachung der Natur Rückwirkungen - wie die Klimaerwärmung - hervorruft, die dazu führen, dass immer mehr Arbeit benötigt wird, um der Natur Erzeugnisse abzuringen. Natur und Gesellschaft existieren für Schaupp weder unabhängig noch räumlich getrennt voneinander: "Arbeit ist der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur", so Marx.
Doch nicht nur die äußere Welt, sondern auch menschliche Körper werden nutzbar gemacht. An glänzend erzählten historischen Beispielen arbeitet Schaupp die Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Natur heraus und fördert bemerkenswerte Verbindungen zutage: Moskitos, die Aufstieg und Fall des Sklavenhandels beeinflussten, verderbendes Fleisch, das zur Einführung des Fließbands in den Chicagoer Schlachthäusern führte, und Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft, die Streiks in der Automobilindustrie beförderten. Nebenher entsteht ein Panorama der Ungeheuerlichkeiten, die Menschen nicht nur der nicht menschlichen, sondern auch der menschlichen Natur zugefügt haben, um das Maximum aus ihr herauszupressen: Sklaverei, Vertreibung und Mord, Zwangsarbeit, die massenhafte Verelendung von Fabrikarbeitern und brutale Niederschlagung von Arbeitskämpfen. Schaupp erzählt die Geschichte des industriellen Kapitalismus als Gewaltgeschichte von Arbeit und Natur.
Weder die menschliche noch die nicht menschliche Natur nehmen diese Ausbeutung passiv hin. Obschon die nicht menschliche Natur nicht strategisch handeln kann, verfügt sie über eine relative Autonomie, die sie unserem vollständigen Zugriff entzieht. Und auch Körper lassen sich nie gänzlich zu Arbeitsverrichtungsmaschinen machen: Sie schludern, trödeln und verstoßen auf mannigfaltige Art gegen die Regeln, die ihnen im Arbeitsprozess auferlegt werden. Am industrialisierten Steinkohlebergbau, wie er seit 1799 im Ruhrgebiet betrieben wurde, wird dieser Eigensinn sichtbar: Die in den Boden getriebenen Schächte drohten beständig einzustürzen, Wasser konnte eindringen, der eingeatmete Staub schädigte die Lungen der Kumpel, und entweichendes Methan konnte explodieren. Die Bergarbeiter mussten sich erfahrungsbasiertes Wissen über die unwirtliche Umgebung aneignen, um die Risiken für Leib und Leben zu minimieren.
Auch gegen den disziplinierenden Zugriff der Zechenbesitzer entwickelten die Kumpel Strategien. Sich der Kontrolle zu entziehen war relativ leicht, da die Arbeit unter Tage - in sich über Kilometer erstreckenden Tunnelnetzen - kaum beaufsichtigt werden konnte. Die Kohlearbeiter organisierten ihre gefährliche Arbeit folglich weitestgehend selbst, was die Entstehung einer "proletarischen Identität" begünstigte. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kohle und die natürliche Beschränkung ihres Vorkommens auf wenige Regionen vergrößerten die Verhandlungsmacht der Kumpel in Arbeitskämpfen. Der preußische Staat reagierte 1918 mit der Verabschiedung des ersten Arbeitsschutzgesetzes und legte den Grundstein für die Institutionalisierung der industriellen Beziehungen. Mit dem titelgebenden Begriff der Stoffwechselpolitik hebt Schaupp hervor, dass neben Staat, Kapital und Arbeit auch die Natur eine zentrale Rolle in der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen spielt.
Pazifiziert wurde der stetig schwelende Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zeitweise durch das deutsche "Wirtschaftswunder". Die vor allem dank billigen Öls florierende Wirtschaft ermöglichte Kapital und Arbeit eine Phase des beiderseitigen Vorteils. Diese kurze Periode prägt bis heute unser Bild eines funktionierenden Kapitalismus, der auf Sozialpartnerschaft setzt. Sie drückt sich auch in einer "fossilen Nostalgie" aus, die unter Gegnern der sozialökologischen Transformation verbreitet ist und die Kohleindustrie und die so gefährliche wie ausbeuterische Arbeit der Kumpel romantisch verklärt.
Doch wie umgehen mit solchen verzerrten Wahrnehmungen, die die Realität der ökologischen Krise und ihrer Ursachen nicht anerkennen wollen? Der Appell, den Einschätzungen der Wissenschaft endlich Glauben zu schenken, greift laut Schaupp zu kurz. Klimaschutz ist nicht nur Diskurspolitik, ist keine Frage des Wissens oder der Einsicht, sondern abhängig von gesellschaftlicher Machtverteilung. Weil sie dieser Konflikthaftigkeit keine Rechnung tragen, verwirft Schaupp technokratische Ideen einer Umweltpolitik, von der Arbeit, Kapital und die Natur gleichermaßen profitieren.
Schaupp hat ein dichtes, theoretisch ambitioniertes und empirisch reichhaltiges Buch vorgelegt, dessen Lektüre sowohl fesselnd als auch aufschlussreich ist. Er argumentiert überzeugend, dass mitnichten individuelle Konsumentscheidungen, sondern die Produktion selbst im Zentrum der ökologischen Krise steht. Weil der Arbeitswelt eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Krise zukommt, sieht Schaupp dort auch Möglichkeiten, ihr etwas entgegenzusetzen. Er plädiert für Arbeitsniederlegungen, die nicht nur politischen Druck ausüben, sondern ganz praktisch Arbeit und ihre destruktiven Folgen reduzieren sollen. Doch auf hedonistischen Müßiggang, so das nüchterne Fazit, ist auch nach einem Ende der schonungslosen Vernutzung menschlicher und nicht menschlicher Natur nicht zu hoffen. Der ausgelaugten Erde abzutrotzen, was nötig ist, um unser Überleben zu sichern, wird Arbeit genug. HANNAH SCHMIDT-OTT
Simon Schaupp: "Stoffwechselpolitik". Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
422 S., br.
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