Das erste Kapitel des kleinen Romans heißt Die Misshandlung meiner Schwester und entfaltet die Gewaltexzesse der Stiefmutter an der älteren Schwester des Protagonisten. Er erzählt diese Szene in der Ich-Perspektive aus der Sicht eines zehnjährigen Kindes. Die hinterhältige Brutalität der Stiefmutter wird detailreich geschildert, die doppelbödige Moral eines scheinbar gutbürgerlichen, geordneten Lebens exakt beschrieben, sodass man sich unwillkürlich fragt, ob dieser Roman nicht autobiographische Züge trägt. Welcher Romancier könnte solche Szenen in dieser lebendigen Dichte erdenken und inszenieren? Andererseits fragt man sich, ob das Geschriebene nicht die Vielzahl heutiger Missbrauchs- und Gewaltdelikte gegen Minderjährige und Schutzbefohlene sei es in Internaten, Pflegeheimen oder im häuslichen Rahmen wiedergibt, also unsere gesellschaftliche Ist-Situation authentisch beschreibt. Denn die im Roman geschilderten Verhaltens-Muster gleichen jenen der heutigen Realität genau. Das gesellschaftlich-soziale Phänomen des Missbrauchs geht damals wie heute durch alle gesellschaftlichen Schichten, alle Bildungs-Ebenen sowie alle Berufsgruppen. Die doppelbödige Moral eines dandyhaften "Dr. Jekyll" und eines moralisch psychisch-abgründigen, brutalen "Mr. Hyde" sind noch immer allgegenwärtig. Das Kapitel spiegelt folglich einen Lebensbereich unserer Gegenwart wider, gerade so, als ob vermeintlich Vergangenes immerwährendes Nun geblieben sei.
Das Kapitel Tagebuchaufzeichnungen kontrastiert die ungetrübte und unbeschwerte Kindheit im Internat, wohin der Protagonist Jeannot gebracht worden ist, mit der weiterhin gewalttätigen Situation zu Hause. Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers reichen von August 1970 bis November 1971. Internats-Erlebnisse und Schulalltag wechseln sich mit sog. Heimfahrwochenenden und vor allem Rückblenden ab, in denen der Verfasser sein und seiner älteren Geschwister Leben unter dem Terror der "Herrscher des Einfamilienhauses" vor seinem Internatseintritt schildert. Der letzte Eintrag des Tagebuchs vom 26. November 1971 vertauscht in Gedanken des Protagonisten und Ich-Erzählers die Rollen: Nun wird der biologische Vater von einem starken Kerl verprügelt, während Jeannot in die unbeteiligte, mitleidlose Rolle des Vaters schlüpft. Und wie einstmals Pontius Pilatus, so wäscht auch er nun seine Hände in Unschuld.
Das Kapitel Gespräche am Teetisch atmet eine neue Atmosphäre. Der Präfekt des Internats in B. zeigt menschliche Wärme, Mitgefühl, Empathie. Er eröffnet dem nun dreizehnjährigen Jeannot die weite Welt der Literatur sowie durch ein länger währendes Gespräch über Menschenrechte, verbunden mit einem Besuch des Stadtarchivs in M. , nicht nur einen Zugang zu sich selbst, sondern vor allem einen Ausweg aus dem elterlichen Einfamilienhaus mit seinen Gewaltexzessen. Der Prä als echter Pädagoge, der pais agogein das Kind an die wissende, weise Hand nimmt und es führt, wird der sokratisch-väterliche Freund für Jeannot. Selbst wenn nun über häusliche Gewalt berichtet wird, wird sie in einen verständnisvollen und hilfsbereiten Dialog zwischen dem Prä und Jeannot eingebettet und für wichtige Veränderungen in Jeannots Leben fruchtbar gemacht. Der Autor zeigt: Häusliche Gewalt ist weder "gottgegeben" noch blindes, unabwendbares Fatum sie war und ist: Menschen-gemacht. Und damit veränderbar und abwendbar.
Im Kapitel Das Frühlingsfest erfahren wir Jeannots Nachnamen: Haller. Nun ist der Jugendliche eine "komplette Person" geworden und eine gefeierte Persönlichkeit. Denn seine Skulptur zu den Kinderrechten, die von ihm enthüllt wird, macht ihn zum "Star". Wäre die Erzählung nicht in den 1970er Jahren angesiedelt, wäre man versucht, Jeannot zu twittern oder ihn in facebook zu "liken", um ihm für seinen Erfolg zu gratulieren.
Ich wünsche diesem Roman eine wache, vor allem gesellschaftlich engagierte Leserschaft. Bernhard Ruppert