Fernando Pessoa (1888 - 1935) ist eine der Personen der Weltliteratur, deren Name nicht so geläufig ist. Im Portugal allerdings hat er einen Stellenwert wie vergleichsweise bei uns Goethe. Das mag vielleicht daran liegen, dass er zu seinen Lebeziten nur wenig veröffentlicht hat, aber schon das Wenige reichte, um ihn zum führenden Dichter der portugiesischen Moderne zu machen. Die Sensation war allerdings sein literarischer Nachlass, der über 27.500 Manuskripte umfasste und dessen Archivierung bis heute noch nicht ganz abgeschlossen ist. Pessoa war ein zwanghafter Schreiber. Nicht zum Zwecke des literarischen Ruhms oder Gelderwerbs, es war einfach sein Naturell, die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu überleben. Seine Kreativität war auch nicht die eines Einzelnen, denn schon früh erschuf er Heteronyme, er erfand vollkommen andere Personen und Lebensläufe und ließ die dann schreiben. Die berühmtesten sind Alberto Caeiro, Ricardo Reis und, wie in diesem Buch, der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, der der Person Pessoa am nächsten kommt. 20 Jahre sammelte er Beiträge für dieses umfangreiche Buch, eine Kollektion von Beobachtungen, Gedanken und Refelxionen, die einen weiten inhaltlichen Bogen um die Existenz des Menschen spannen. Dieses Buch folgt keiner Handlung, es besteht aus durchnummerierten Absätzen, die der freien Assoziation folgen.Das ist hilfreich für den Leser, denn das Buch kann man unmöglich in einem Zug durchlesen. Wer sich auf Pessoa einlassen will, muss Geduld, Ruhe und Konzentration aufbringen, denn um das Gelesene auch wirklich verstehen und nachvollziehen zu können, muss man bereit sein, es gründlich zu verarbeiten. Der Klappentext verweist in einem Vergleich auf die Bibel und das ist gut gewählt, denn die intensive Beschäftigung mit Pessoas Gedanken sollte am besten in kleinen Schritten mit vielen Pausen erfolgen. Dann wird man auch belohnt, denn wenn man in seine Welt mit ihrer Zerissenheit auf der einen und ihrer verblüffenden Logik auf der anderen Seite Zugang findet, kann man sich der Faszination nicht entziehen, auch wenn man nicht immer einer Meinung mit dem Autor sein kann. Doch genau das ist gewollt, denn Pessoa war beileibe kein Philosoph, er war ein Denker."Das Buch der Unruhe" gilt als sein Hauptwerk und ganz sicher steckt sehr viel seiner Persönlichkeit darin. Der Amman-Verlag hat sich im Laufe der Jahre sehr um das Gesamtwerk dieses außergewöhnlichen Literaten verdient gemacht und immer wieder die besten Übersetzungen herausgegeben. Man kann, wenn man sich auf Pessoa bedingungslos einlassen will, auch mit diesem Buch beginnen. Wer erst einmal nur interessiert ist, dem empfehle ich als Einstieg das Diogenes-Buch "Denken mit Fernando Pessoa". Wem das zusagt, wer sich die Zeit und die Gduld nimmt, der kann dann in die Welt des Portugiesen eintauchen, sich infizieren lassen und hat vielleicht einen ständigen literarischen Begleiter gewonnen, denn wie erwähnt, Pessoas Werk ist umfangreich, vielschichtig und sehr gut aufgearbeitet. Das auf dem Titel dieser Ausgabe vermerkte Zitat "Ein Jahrhundertbuch" ist in jedem Fall zutreffend.