Unter den vielen Kindheitserinnerungen, die ich schon gelesen habe, gehört "Der Junge muss an die frische Luft" zu den tief bewegenden, aus denen ich eine Menge habe mitnehmen können. "Ein wunderschönes Buch, das Mut macht" wird der NDR im Klappentext der Taschenbuchausgabe zitiert. Und damit ist schon alles gesagt, eine Fünf-Sterne-Bewertung steht für mich außer Frage! "Ursprünglich sollte es die unterhaltsame Autobiografie eines schillernden deutschen Showstars werden." schreibt Hape Kerkeling in seinen Schlussbemerkungen zu diesem Buch. Und dann, einige Absätze weiter: "Nun habe ich - und das ohne jede Absicht - die Geschichte einer verlorenen Kindheit erzählt. Es musste vielleicht einfach alles mal gesagt werden."Dass es ihm gut getan haben muss, die Geschichte seiner Kindheit zu erzählen, es einfach alles mal zu sagen, ist meinem Gefühl nach auf fast jeder Seite dieses traurigen und doch humorvoll und mit viel Sprachwitz geschriebenen Buches zu spüren.Es ist die Geschichte einer zunächst unbeschwerten Kindheit im Ruhrgebiet der Sechziger- und Siebzigerjahre, die durch einen harten Schicksalsschlag ein jähes Ende findet. Hans-Peter (Hape) Kerkeling wächst in einem liebevollen Elternhaus zusammen mit seinem acht Jahre älteren Bruder Josef auf. Vor seiner Einschulung verbringt er seinen Tag im Tante-Emma-Laden seiner Oma Änne, wo auch seine Mutter arbeitet. Dort beflügelt der Klatsch der Kundinnen und Kunden stets aufs Neue die Fantasie des Kleinen. Seine Beobachtungsgabe und das Talent, Menschen nachzuahmen, nehmen hier schon ihren Anfang.Oma Änne jedoch bleibt vom Gerede der Kundschaft unbeeindruckt. Sie ist eine sehr starke Frau, die trotz des frühen Unfalltods ihres Sohnes Wilhelm ihren Lebensmut behalten hat. Im Dritten Reich hat sie es geschafft, ihre Kinder von der HJ und dem BDM fern zu halten und in ihren letzten Lebensjahren macht sie sich nichts aus den verwunderten Blicken der Passanten, als sie, ganz altmodisch, Ausflüge in der eigenen Pferdekutsche macht. Auch Hans-Peters andere Großmutter, Oma Bertha, ist eine sehr starke Frau, der es trotz schlimmer Erlebnisse im Krieg nicht an Tatkraft fehlt. Sie, ihr Mann und Hans-Peters Vater werden dem Jungen Kraft geben, als die Idylle seiner frühen Kindheitsjahre immer mehr zusammenbricht.Das fängt unmittelbar nach seiner Einschulung an, als Oma Änne stirbt. Kurze Zeit später erkrankt seine Mutter und verliert dann bei einer Operation ihren Geschmacks- und ihren Geruchssinn, wodurch sie schwer depressiv wird. Die immer schlimmer werden Depressionen führen schließlich zum Suizidversuch, an dessen Folgen sie im Krankenhaus stirbt. Ich konnte nur staunen, wie es Hape Jahrzehnte später geschafft hat, so genau seinen Schmerz als damals Achtjähriger zu beschreiben, sich alle Ereignisse der für ihn so unvorstellbar schrecklichen Beerdigung und der unmittelbaren Zeit danach in Erinnerung zu rufen. Und genauso staunend habe ich mitverfolgt, wie er trotzdem nach und nach zu seinem Frohsinn zurückfindet, im Kreis seiner Familie und seiner Schulfreunde sein Talent als Komiker entfaltet und schließlich zu dem Hape wird, den wir heute kennen.Um eine chronologische und möglichst vollständige Erzählung seiner Kindheit scheint es Hape hier nicht so sehr zu gehen, vor allem erinnert er sich an einzelne Zeitabschnitte und Ereignisse. Diese liegen hauptsächlich in seiner frühen Kindheit und seiner Grundschulzeit, auf die Jahre danach geht er kaum ein. Ganz besonders haben mir die vielen kleinen Reflexionen in diesem Buch gefallen, die Hape so liebenswert und dieses "Mutmach-Buch" so wertvoll machen. Wie etwa diese Zeilen: "Gott bleibt für mich bis heute der unsichtbare Komponist einer wundervollen Musik. Deren Wirkung in der Welt kann jeder Mensch erleben und, wenn er will, sogar genießen. Nach seiner Musik zu urteilen, muss Gott phantastisch sein, und ich kann keinen einzigen Grund dafür erkennen, warum ich an ihm zweifeln sollte. Es kann eine Freude sein, sich den sichtbaren Wirkungen des eigentlich Unfassbaren zu nähern."