Der Icherzähler Alex Schulman (der gleichnamige schwedische Autor ist Jahrgang 1976, die Rahmenhandlung spielt mehr oder weniger in der Gegenwart) beobachtet mit Entsetzen, dass seine Kinder Angst vor seinen Zornausbrüchen haben. Dabei schlägt er sie nicht und schreien tut er auch nicht. Dennoch strahlt er eine Aura aus, die seine Familie zu belasten scheint. Eine Familienaufstellung beim Therapeuten lässt den Ursprung dieses für Alex unbegreiflichen Phänomens auf der mütterlichen Seite vermuten, speziell beim Großvater Sven Stolpe, einem bekannten Schriftsteller und Literaturkritiker, der ein aufbrausendes Wesen hatte und ein Talent, sich - innerhalb und außerhalb der Familie - Feinde zu schaffen und diese Feindschaften grimmig über viele Jahre zu pflegen. Alex liest die autobiografischen Schriften des Großvaters und entdeckt dort den Hinweis auf eine nie ausdrücklich dargelegte tiefe Kränkung, die dieser im Sommer 1932 erleiden musste. Mit Hilfe von Archivmaterial, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen stößt Alex auf die kurze, leidenschaftliche und tragische Affäre, die Svens Frau Karin, Alex' Großmutter, im Sommer 1932 mit Olof Lagercrantz hatte, der wenig später ebenfalls als Dichter und Journalist auftreten und es bis zum Chefredakteur von 'Dagens Nyheter' bringen würde.Das Buch spielt auf drei Zeitebenen: Der Gegenwart mit Alex' Beobachtung und seiner Recherche in der Vergangenheit, dann 1988, Erinnerungen des zwölfjährigen Alex an Besuche bei den Großeltern und deren eigenartiges Verhältnis zueinander, das sich im Licht der neuen Informationen im Nachhinein ganz anders darstellt - und schließlich dem rekonstruierten Sommer 1932, mit der Affäre von Karin und Olof.Ich mag Rätsel, ich mag Rätsel- und Recherchegeschichten, und wenn sie dann noch eine große unerfüllte Liebe aufdecken, ist das umso ergreifender und schöner. Der Teil des Buches, der in der Gegenwart spielt, hat mich restlos überzeugt. Auch die Kindheitserinnerungen sind schön und eindrücklich geschildert: der Kakao, der strenge Großvater mit seinen Regeln, das Arbeitszimmer, in dem man still zu sein hatte, um ihn nicht beim Verfassen zu stören. Dass der zwöfjährige Alex allerdings die langen und komplexen Dialoge der Großeltern so aufnimmt und behält, dass er sie dreißig Jahre später wortgetreu wiedergeben kann, kaufe ich nicht so recht.Und mit dem Part aus jenem Sommer der tragischen Liebe hadere ich gleich mehrfach. Einmal tu ich mich schwer, die beiden Rivalen Sven und Olof zu fassen. Es gab sie wirklich, beide haben Wikipedia-Artikel, sogar auf Deutsch. Wie groß sind die in Schweden? Sven kommt in diesem Buch ausgesprochen schlecht weg, ein bornierter, narzisstischer Kotzbrocken, der seiner Frau das Leben zur Hölle macht, sie aber auch um keinen Preis gehen lassen will. Stößt Alex Schulman mit seinem Buch ein Denkmal um - oder nimmt das literarische Schweden die Demontage des langjährigen Kritikers des 'Aftonbladet' mit einem Schulterzucken hin?Dann reibe ich mich irgendwie an der literarischen Rekonstruktion: Schulman hat den Briefwechsel von Karin und Olof als Quelle, er kann die Tagebücher der Rivalen Sven und Olof nutzen und natürlich deren veröffentlichte literarische Werke mit ihren Anspielungen. Bei dieser Gemengelage entscheidet er sich, für die Erzählung aus dem Sommer 1932 hauptsächlich die Perspektive von - ausgerechnet! - Karin zu wählen, von der er kaum Zeugnisse aus erster Hand hat. Das öffnet den Raum für eigene Gestaltung, lässt aber auch die Tür fürs Spekulative offen. Bei mir hat das nicht verfangen: Während ich das Leid Karins in der Ehe mit Sven voll nachempfinden kann und mitfiebere, bleibt die hier geschilderte Faszination für Olof für mich hölzern und kalt und abstrakt.Schließlich ist da Sven, das Arschloch in dieser Geschichte. Herrisch, besitzergreifend und selbstverliebt, festgefahren in seinen Routinen, rechthaberisch, unempathisch, grausam, heuchlerisch frömmelnd, frauenfeindlich und besessen von Treue und Reinheit. Es ist leicht, ihn abzulehnen und zu hassen. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob Alex Schulman ihm nicht - in Teilen wenigstens - Unrecht tut. Borniert und festgefahren? Unempathisch? Sozial inkompatibel, dabei hochintelligent und mit sehr besonderen Fähigkeiten ausgestattet? Liest jeden Morgen drei Bücher, weil er es schafft, in wenigen Sekunden den Inhalt einer ganzen Seite so zu memorieren, dass er sie Wort für Wort wiedergeben kann? Ich bin kein Psychiater, aber für mich klingen diese Charakteristika alle sehr danach, als sei Sven Stolpe ziemlich weit draußen auf dem Autismus-Spektrum angesiedelt gewesen. Das macht die Ehe für Karin nicht angenehmer, aber es lässt den Widerling doch in einem anderen Licht erscheinen.In Summe eine große, schöne und tieftraurige Liebesgeschichte mit Abzügen in der B-Note.