Besprechung vom 23.09.2024
Je näher der Krieg, desto besser das Leben
K. B. Bradleys "Gras unter meinen Füßen"
Normalerweise gibt es einen Unterschied zwischen Krieg und Frieden, aber Ada kennt ihn noch nicht. Sie lebt in London, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Nachrichten von der Bedrohung durch die deutschen Bomben sind längst über den Ärmelkanal gedrungen, sogar bis hinein in das schäbige Zimmer, in dem Ada lebt, seit sie denken kann. Sie hat das Zimmer nie verlassen, ihre Mutter verbietet es, weil Ada "ein Krüppel" sei, wie sie verächtlich sagt. Von Geburt an hat Ada einen Klumpfuß, für den die Mutter sich derart schämt, dass sie das Kind höchstens aus dem Fenster blicken lässt, allerdings auch nur, wenn sie guter Dinge ist. Wenn nicht, sperrt sie Ada hämisch lachend eine ganze Nacht lang in das Kabuff unter der Spüle, wo die Schaben über sie kriechen. Adas Leben ist Krieg, immer schon.
Dass es so etwas wie Frieden gibt, erfährt sie erst, als sie mit ihrem jüngeren Bruder Jamie und Hunderten weiterer Kinder aus London aufs Land und "in Sicherheit" verschickt wird. Die beiden haben Glück. Zwar sind sie derart verwahrlost und verlaust, dass niemand der Dorfbewohner sie aufnehmen möchte. Aber so landen sie bei der einzigen Frau, die sich der vaterländischen Pflicht eigentlich entziehen will: Susan Smith. Eine alleinstehende, zur Melancholie neigende Dame mit dem Herz am rechten Fleck. Sie will die beiden Kinder nicht, aber da kein Weg an ihnen vorbeiführt, möchte sie das Beste aus der Sache machen. Und das tut sie so gewissenhaft, dass Adas Leben paradoxerweise immer besser wird, je näher der Krieg rückt.
Diese Spannung durchzieht das Buch der preisgekrönten amerikanischen Autorin Kimberly Brubaker Bradley, das bereits 2015 unter dem sprechenden Titel "The war that saved my life" erschien und das nun in der deutschen Übersetzung von Beate Schäfer vorliegt. Sein Titel "Gras unter meinen Füßen" spielt auf all die kleinen und großen Dinge an, die Ada in Susans Obhut zum ersten Mal erlebt: Sie läuft übers Gras, sie badet in einer Badewanne mit warmem Wasser, sie wird in ein sauberes Handtuch gewickelt und schläft in einem Bett "mit glatten, dünnen Tüchern und warmen Decken darüber". Dass diese Tücher als Laken bezeichnet werden, muss sie erst lernen. Da sie nie eine Schule besucht und niemals ein Buch gesehen hat, fehlen ihr die Wörter für die einfachsten Dinge: Sattel, Trense, Stall, aber auch Nadel, Ei, Erbsen sowie Krücken und Operation sind Begriffe, die sie lange verunsichern, weil sie eine Welt eröffnen, in der sie sich nicht auskennt. "Dumm. Zurückgeblieben. Beschult. Aufmerksam. Alles bloß Wörter. Ich hatte diese sinnlosen Wörter so satt." Dass die Eingewöhnung in die noch heile Welt der Grafschaft Kent so quälend lange dauert, liegt in der Natur der Sache. Dass Brubaker Bradley sie erzählerisch nicht abkürzt, macht ihr Buch zu einer Entdeckung.
Es gibt so viel, was Ada lernen muss. Dass man "danke" und "bitte" sagt, begreift sie schnell. Auch wie sie ihre neuen Krücken benutzen kann, um zu dem Pony hinter Susans Haus zu gelangen, versteht sie rasch. Das Pony Butter wird ihr erster Freund. Auf ihm bringt sie sich selbst das Reiten bei. Durch ihn lernt sie den Stallmeister Fred Grimes kennen, der sich um die edlen Pferde der reichen Nachbarn kümmert, Ada beim Reitenlernen hilft, ihr die Stricksachen seiner verstorbenen Frau schenkt - schlicht nett zu ihr ist. Genau dies aber, die freundlichen Gesten, das lächelnde Wohlwollen der Menschen als absichtslos und ungefährlich anzunehmen, fällt Ada am schwersten. Bei jeder Erschütterung zieht sich das Mädchen, das weder seinen Geburtstag noch sein richtiges Alter kennt (sie wird auf neun Jahre geschätzt), in sein Schneckenhaus zurück. "Ich wusste, dass Susan nicht echt war. Oder falls sie es doch war, ein winziges bisschen, dann höchstens vorübergehend. Wenn der Krieg vorbei war, wäre sie fertig mit uns."
Durch diese Art, Ada stets zwei Schritte vor- und einen zurückgehen zu lassen, baut Kimberly Brubaker Bradley sehr langsam eine Spannung auf, von der man früh ahnt, dass sie sich in dem Wiedersehen mit der Mutter entladen muss. Bevor es so weit ist, schärft Ada ihre Urteilskraft bei der Spionageabwehr und beweist ihren Mut am Rande der Schlacht um Dünkirchen. Als Tausende in Dünkirchen verletzte Soldaten in ihrem Dorf an der Küste landen und blutiges Chaos ausbricht, hilft auch Ada so gut sie kann und bringt den Verwundeten Tee.
"Es gab eine Vor-Dünkirchen-Version von mir und eine Nach-Dünkirchen-Version", bemerkt sie, nicht ahnend, dass es auch eine Vor-dem-Wiedersehen- und eine Nach-dem-Wiedersehen-Version von ihr geben wird. Dass der Übergang von einer schlechten in eine bessere Welt nicht schmerzfrei zu haben ist, hat sie da allerdings schon begriffen. LENA BOPP
Kimberly Brubaker Bradley: "Gras unter meinen Füßen".
Dtv, München 2024. 336 S., geb., 16,- Euro. Von 11 J. an
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