Besprechung vom 11.01.2025
Radikale Akzeptanz
Bloß keine Ratschläge: Katja Lewina denkt über den Tod nach
Dass der Tod nur die anderen trifft, ist eine beliebte Spielart magischen Denkens. So hält man die eigene Sterblichkeit zumindest auf Abstand. Diese Flucht in die Illusion funktioniert umso besser, je weniger man mit dem Tod konfrontiert wird. Die 1984 in Moskau geborene Autorin Katja Lewina aber kann sich nicht in Wunschwelten abschotten, denn sie lebt täglich mit ihrem kranken Herzen und dem Wissen, dass ihr Leben im nächsten Augenblick vorbei sein kann.
Den drohenden plötzlichen Herztod soll ein implantierter Defibrillator (der durchaus auch mal aussetzen kann) abwenden. Wie dünn ihr Lebensfaden ist, hat Katja Lewina jedoch erst erfahren, nachdem ihr Sohn Edgar gestorben war, unerwartet, im Alter von sieben Jahren. Gerade noch flitzte er durch die Wohnung, und dann war er tot. "Einfach so", schreibt Katja Lewina in "Was ist schon für immer".
Man kann dieses Buch über das Leben und den Tod auch als Versuch lesen, dem doppelten Schicksalsschlag durch das Erzählen seine niederdrückende Kraft zu nehmen. Katja Lewina weiß um die Abwehrmechanismen, die beim Thema Tod aktiviert werden: "Der Tod an sich ist ja schon ein unbegreifliches Monstrum. Aber der Tod eines Kindes? Ich kann da jeden emotionalen Fluchtreflex verstehen. Und deshalb will ich Sie auch gar nicht so irre lang mit diesem schicksalhaften Winter behelligen." Aber der Leser soll wissen, woher ihr Interesse "an diesem crazy little thing called Sterben kommt".
Katja Lewina schreibt feinfühlig, ohne ins Klischeehafte zu kippen, bisweilen flapsig, ohne abgeklärt zu wirken, liebevoll, ohne kitschig zu sein. Keine selbstmitleidige Zeile. Hier spricht eine Frau, die zu viel Schreckliches erlebt hat, um sich weiterhin mit "bullshit" herumzuschlagen. Anders formuliert: Warum sich das Leben dort unnötig schwer machen, wo es einfacher ginge? Kalenderspruch? Keineswegs. Ein Blick auf die Verstrickungen des Alltags genügt, um zu erkennen, wie oft man aus Nichtigkeiten Probleme konstruiert.
Was ihre "durch und durch miese" Herzkrankheit betreffe, so Lewina, würde sie sich zu der kühnen Behauptung hinreißen lassen, dass sie ihr eine Lebensqualität beschert habe, von der sie nie zu träumen wagte. Sie betrachte ihr Leben durch eine Art Filter und stelle sich stets die Frage: Was ist wirklich wichtig? Ihre beiden Töchter seien es, weitere Herzensmenschen, Freunde, Familie. Außerdem Ehrlichkeit statt Spielchen, Konflikte auszufechten - und für die eigenen Bedürfnisse einzustehen.
Lewina verharrt nicht bei ihrer eigenen Geschichte, sie weitet den Blick, betrachtet den Umgang von Freunden und Bekannten mit dem Tod, der bei all seiner Schrecklichkeit sogar als "schön" erlebt werden könne. Sie zitiert Philosophen, Wissenschaftler und Literaten - Seneca, Epikur, Montaigne, Freud, Joan Didion. Als eine Freundin die Mutter über deren nahenden Tod im Unklaren lässt, fragt sie, ob die Wahrheit dem Todgeweihten verschwiegen werden dürfe. Ratschläge erteilt sie nie, was der Leser aus Sätzen wie diesem macht, bleibt ihm überlassen: "Gegen unsere Vergänglichkeit ankämpfen bedeutet gegen das Leben ankämpfen. Alles, was dabei herauskommen kann, ist Unglücklichsein."
Und Edgar, Katja Lewinas toter Sohn? Sie hält ihn im Familienalltag präsent, am Kleiderhaken im Flur hängt seine Jacke, auf seinem Platz am Tisch brennt eine Kerze, und im Küchenschrank steht seine T-Rex-Trinkflasche. "Unser totes (Geschwister-)Kind ist für uns inzwischen ebenso selbstverständlich wie unsere anderen, lebenden (Geschwister-)Kinder." Die radikale Akzeptanz, so Lewina, habe die Familie gerettet.
Eine Zeit lang erinnerte Katja Lewina täglich eine App mit den Worten "Don't forget, you're going to die" an ihre Sterblichkeit, doch bald ging ihr dieser Satz auf die Nerven. Noch sei sie schließlich hier und quicklebendig. Noch ruft das Leben und will gefeiert werden - ohne den Tod beiseitezuschieben. MELANIE MÜHL
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