Besprechung vom 22.03.2025
Bekenntnisse der Göttin des Gemetzels
Yasmina Reza saß jahrelang in Gerichtsprozessen. Ihr neues Buch ist ein Kabinett des Schreckens mit intimen Einblicken.
Von Sandra Kegel
Von Sandra Kegel
Récits de certains faits" heißt Yasmina Rezas neues Buch im Original. Das trifft den Ton dieser Prosa ganz gut: Knapp, trocken, ohne Umschweife und Schnörkel versammelt die französische Autorin Momentaufnahmen aus verschiedenen Gerichtsverhandlungen, die sie in den letzten Jahren besucht hat. Dass der deutsche Titel die programmatische Nüchternheit zu "Die Rückseite des Lebens" erhöht, zeugt von überflüssigem Misstrauen. Denn der Schrecken dieser Szenarien ist auch ohne Leseanleitung atemberaubend und stellt sich mit jeder einzelnen Szene aufs Neue ein. Und: Was Yasmina Reza zeigt, ist mehr als die Rückseite des Lebens, es ist der reinste Horror, das ganze Elend des Daseins, dessen brutalster Vollstrecker die Zeit ist und wie sie vergeht.
Manche der Angeklagten kennen wir, weil sie durch ihre Verbrechen berühmt wurden; andere sind unbekannt. Da steht wegen Vergewaltigung der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan vor Gericht wie auch der Fernsehmoderator Jean-Marc Morandini oder wegen Korruption der ehemalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, dessen Wahlkampf Yasmina Reza seinerzeit bereits ein Buch widmete. Daneben erleben wir Mütter, die ihre Kinder getötet haben, wie Fabienne Kabou, die ihre Tochter an einem Strand zurückließ, damit sie von der Flut weggespült wird. Wir sehen Jonathann Daval, der seine Frau ermordete und im französischen Fernsehen wochenlang als vermeintlich trauernder Witwer weinte, bis man ihn schließlich überführte. Da ist der freundliche Herr, der ältere Damen umsorgt und dann vergiftet, um an ihr Geld zu kommen, und vor Gericht alles abstreitet. Ein anderer hat die Familienmitglieder seiner Frau zerstückelt und kann nicht sagen, warum.
Die Schauergeschichten zeichnet Reza ein ums andere Mal mit kühler Feder. Ihr Personal ist durchweg real, und sie verfasst auch keine Gerichtsreportagen, juristischen Kommentare oder Prozessprotokolle, sondern reiht Episoden aneinander, die fragmentarisch bleiben, manchmal auf scheinbar nebensächliche Details fokussiert sind und vom eigenwilligen Blick der Autorin leben.
Unterbrochen werden diese Skizzen von biographischen Einsprengseln, in denen Reza uns nach Venedig mitnimmt in ihre Wohnung, Erinnerungen an Freunde wie Luc Bondy oder Imre Kertész teilt oder von ihrer dreijährigen Enkelin erzählt, die nicht einschlafen kann, als sie bei der Oma übernachtet. Dass wir Reza in solch intimen Momenten erleben, ist erstaunlich, denn sie gilt als extrem scheu, gibt nur selten Interviews und exponiert sich als Person nicht gerne.
Hier nun ist sie in Nahaufnahme zu erleben, und das nicht nur, wenn sie ihre Begeisterung für die amerikanische Fotografin Diane Arbus preisgibt, sondern mehr noch in so beklemmenden Geständnissen wie ihrem Umgang mit Frau Kling. Als Jugendliche hatte Reza ihre Lehrerin in der Schule derart schikaniert, dass diese eines Tages den Klassenraum verließ und für immer vom Gymnasium verschwand. Frau Kling habe sie nie vergessen, schließt Reza dieses unrühmliche Kapitel.
"Die Rückseite des Lebens" hat die Autorin zwei Gerichtsreportern gewidmet: Pascale Robert-Diard von "Le Monde" und Stéphane Durand-Souffland vom "Figaro". Dass nicht nur Journalisten, sondern auch Schriftsteller in der Justiz immer wieder Erzählstoff finden, ist literarische Praxis seit der Antike - und kürzlich erst haben der französische Romancier Emmanuel Carrère mit seinem Buch "V13" über den Bataclan-Prozess oder Kathrin Röggla mit "Laufendes Verfahren" über den NSU-Prozess in München das Genre aufs Neue bedient.
Anders als diese Bücher, die einen einzigen Prozess in der Tiefe auszuloten versuchen, ist Rezas Erzählprojekt horizontal angelegt und multiperspektivisch, verteilt auf 54 Texte. Das enthebt sie einerseits von der Pflicht, jeweils das große Ganze eines Falles in den Blick zu nehmen. Diese literarische Freiheit wird den Texten mitunter zum Verhängnis, wenn das Lächerliche in rezatypischer Manier derart pointiert dem Tragischen beigemischt wird, dass am Ende alles mit allem zusammenhängt und die Ausgänge im Ungefähren bleiben. Andere Texte entfalten dafür Spannung, wenn das Ungesagte aus den Ritzen der Gedankensplitter mit Wucht an die Oberfläche drängt.
In ihrem Elend stehen die Miniaturen auch für sich, wenn wir etwa Jonathann Daval zuhören, wie er vor Gericht erklärt, dass er seine Frau wegen eines Streits ermordet habe, ihn das aber nicht mehr interessiere und er zur Klärung auch nichts beitragen könne. Seine trauernden Schwiegereltern hatten ihn einst behandelt wie einen eigenen Sohn.
Dass wir von den monströsen Szenen auf der Gerichtsbühne ansatzlos ins beschauliche Venedig geworfen werden, ist eine Art Rezas, alles mit allem zu verknüpfen: Es gibt demnach keine Taten ohne Kontext, ohne Biographien, ohne das Leben an sich. So visualisiert Reza die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Alltagsszenen aus ihrem Leben haben angesichts des Grauens aber auch ein entlastendes Moment, gerade wenn sie in Venedig die Wolken, das Licht der Dämmerung oder die Melancholie beschreibt.
Reza erinnert sich nicht nur an enge Freunde, mit denen sie durchs Leben ging, sondern auch an Menschen, die sie nur ein- oder zweimal getroffen hat. Da ist die Freundin im fortgeschrittenen Alter, die küssende Paare nicht mehr ertragen kann. Da ist der junge Mann am Lido, den Reza nicht anspricht, sich aber sein gesamtes Leben ausmalt. Das Durcheinander der Welt spiegelt sie in einem Tisch einer Altenheimbewohnerin, auf dem sich ein Chaos aus Fotos, Püppchen, Flaschen, Büchern und Schachteln ausbreitet und Reza darin "Schönheit und Originalität" entdeckt.
Ähnlich wie die Literatur, die die Welt anhand von Einzelschicksalen begreifen will, ist für Reza der Gerichtssaal ein Ort, der das Individuum anhand von Indizien, Zeugen und Berichten in den Blick nimmt. Vom Singulären ausgehend, drängt es die Autorin dabei immer aufs Neue in die Ambivalenz, wenn sie den brutalen Taten auch das Komische, Absurde und Irrationale entlockt. Manchmal - diese Freiheit nimmt sie sich - ist sie von Opfern regelrecht genervt, hat ein Nachsehen mit Tätern oder weist Richter und Staatsanwälte in deren Schranken, wenn sie vergeblich versuchen, einem Angeklagten ein Motiv zu entlocken.
All das ergibt ein Kabinett des Schreckens, aus dem Yasmina Reza im besten Fall so etwas wie eine universelle Wahrheit destilliert, die sich auch als Kommentar zur Theodizee lesen lässt. Warum also es das Böse und so viel Leid gibt in einer Welt mit einem Gott, der allwissend sein soll und gütig. Fünfundsechzig Jahre ist Yasmina Reza inzwischen alt, und sie hat mehr als zwanzig Bühnenwerke, Prosawerke und Drehbücher verfasst. Wie in ihren berühmtesten Theaterstücken, "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", bietet sie auch in "Die Rückseite des Lebens" viel Komik, viel Einsamkeit, viele Missverständnisse und große Trauer. Doch dann verflüchtigen sich die Szenen nach vier oder zehn Buchseiten abrupt. Der Vorhang fällt - ohne Erklärung und ohne Moral. Der Rest ist an uns Lesern.
Yasmina Reza: "Die Rückseite des Lebens".
Aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Carl Hanser Verlag,
München 2025.
200 S., geb.
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