Besprechung vom 16.03.2025
Wir sehen uns morgen früh
Die Schriftstellerin Friedl Benedikt schrieb über ihren Alltag und schickte die Texte an ihren Geliebten Elias Canetti. So entstand ein eindrückliches Porträt der Londoner Kriegsjahre.
Von Anna Vollmer
Es ist nicht ideal, eine Autorin als "die Geliebte von" zu bewerben. Denn egal wie interessant wir literarischen Klatsch finden mögen, ist diese Betitelung ein Etikett, das die meisten schreibenden Frauen loswerden wollten, um als die eigenständigen Schriftstellerinnen wahrgenommen zu werden, die sie waren. Im Fall von Friedl Benedikt, der Geliebten des Schriftstellers Elias Canetti, ist die Sache trotzdem ein bisschen komplizierter. Denn die meisten Texte, die sie neben drei Romanen verfasste und die nun gesammelt unter dem Titel "Warte im Schnee vor deiner Tür" im Zsolnay-Verlag erschienen sind, schickte und adressierte sie an ihren Geliebten, in dessen Nachlass man sie zum großen Teil fand.
Benedikt, die 1916 als Tochter des Zeitungsherausgebers Ernst Benedikt in Wien geboren wurde, lernte den Schriftsteller 1936 in ihrer Heimatstadt kennen. Canetti, der 12 Jahre älter war und zu diesem Zeitpunkt schon seinen Roman "Die Blendung" veröffentlicht hatte, gab der jungen Frau Schreibaufträge und besprach die daraus entstandenen Texte mit ihr.
Der Titel des Bandes, der diese nun versammelt, "Warte im Schnee vor deiner Tür", ist ein wunderschönes Bild, allerdings nicht sonderlich passend. Er stammt aus einem Telegramm, das Benedikt Canetti am 2. Januar 1952, ein Jahr vor ihrem frühen Krebstod, schrieb und das mit den Worten "alle Zärtlichkeit und Liebe - Friedl" endet. Tatsächlich spielt die Beziehung zwischen Canetti und Benedikt für die meisten ihrer Texte aber kaum eine Rolle: Nur selten wendet sie sich direkt an "Ilja", und ihre Liebesbeziehung thematisiert sie so gut wie nie. Es sind vielmehr tagebuchartige Alltagsbeobachtungen, die sie ihm schickt, aufgeschnappte und protokollierte Gespräche, meist aus dem London der Kriegsjahre, wo beide, Canetti und Benedikt, seit 1938 im Exil lebten.
Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Liebes- und Geldsorgen, um Literatur und das Leben im Krieg. Oft sitzt Friedl in Pubs oder Lokalen, schnappt Gesprächsfetzen auf und beobachtet, was um sie herum vor sich geht. Immer wieder lernt sie Leute kennen. Darüber schreibt sie: "Ich habe es schrecklich gerne, wenn ich zu jemandem spreche, von dem ich keine Ahnung habe, der von mir keine Ahnung hat, und darum geh ich gerne in das kleine Glasshouse. Jedes Mal, wenn ich dorthin gehe, spreche ich mit jemandem, und es sind Menschen, die ich sonst niemals treffen würde."
Nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland waren die Benedikts emigriert, und Friedl folgte Canetti und seiner Frau Veza nach England, wo auch ihre Cousine Margaret Gardiner lebte. In deren Haus in Hampstead lebte Benedikt in einer Wohngemeinschaft und hatte bald zahlreiche Freundschaften geknüpft. In London war sie es, die Canetti und seine Frau Veza mit der intellektuellen Szene der Hauptstadt bekannt machte und schon damit das Verhältnis von Lehrer und Schülerin ein wenig unterlief. Doch auch aus ihren Texten spricht, trotz ihrer Bewunderung für Canetti, die klare Haltung einer Frau, der es an Selbstbewusstsein fehlt. Über ihren Mitbewohner, den Politiker Wilfrid Roberts, schreibt sie an einer Stelle: "Es ist ihm egal, was ich schreibe, gleichgültig, ob ich eine Stelle suche, einzig und allein will er mich beherrschen, und zwar nicht einmal geistig, sondern nur als Frau. Das erbittert mich so sehr, und mir sind Gespräche (die meistens ganz konventionell sind) mit ihm so verhaßt, daß ich ihn ohrfeigen möchte, aber meistens geh ich aus dem Zimmer."
Viele der Menschen, die in Benedikts Aufzeichnungen vorkommen, ihre Mitbewohner und Bekannten, sind identifizierbar, und so entsteht, auch anhand des Glossars, das die Herausgeber Fanny Esterházy und Ernst Strouhal erstellt haben, das Porträt einer Londoner Szene, deren Mitglieder heute zum größten Teil vergessen sind, die damals aber teilweise durchaus prominent waren: Politiker, Intellektuelle und Wissenschaftler. Das ist durchaus interessant, und man kann sich neben dem Lesen in der Lektüre des ein oder anderen Wikipedia-Eintrags verlieren. Trotzdem sollte man Benedikts Texte nicht allein deshalb lesen.
Vielmehr ist "Warte im Schnee vor deiner Tür" eines dieser Bücher, die zeigen, warum Wiederentdeckungen von Frauen in der Literaturbranche gerade eine so große Rolle spielen. Eben nicht nur, weil Gleichberechtigung zu Recht wichtiger wird, weil weibliche Stimmen gehört werden sollen, sondern auch, weil viele dieser Texte oft moderner wirken als die einiger ihrer männlichen Kollegen. Das liegt zum einen an der oft subjektiven Perspektive, die ja heute, in Form von Memoirs oder Essays, viel gelesen wird. Und zum anderen an einem unterschiedlichen Zugang zu Menschen und zu Räumen, in die Männer nie vordrangen, zu Gesprächen, die Männer nicht führten und die uns heute, weil sie sich um private und damit meist universelle Themen drehten, immer noch berühren.
In einer Szene des Buchs übernachtet Benedikt notgedrungen bei einer Arbeiterfamilie in Wales, Mutter und Töchter sind unter sich. Der Ehemann von Dolly, einer der Töchter, ist zwei Wochen nach der Hochzeit in den Krieg gezogen. Dolly zeigt der ihr bis dahin unbekannten Besucherin ihr ärmliches Hochzeitskleid und lässt sie in ihrem Bett schlafen. Ihre Gastfreundschaft ist rührend, und gleichzeitig mischt sich in Benedikts Schilderung der Szene die ganze emotionale und wirtschaftliche Not der jungen Frau auch mit einer gewissen Komik: "Mir wurde klar, daß ich die erste fremde Person war, die mit ihr das Bett teilte, seit ihr Mann gegangen war, ich wünschte mir ihretwegen, daß ich ein Mann wäre. Sie hatte all ihre Hochzeitssachen angezogen, und jetzt mußte sie sie wieder weglegen und mit mir ins Bett kommen. Es kam mir so traurig vor. Sie schlüpfte ins Bett, und all die sieben Unterröcke und vier Unterhemden stiegen mir in die Nase. 'Wir lassen das Fenster besser zu', sagte sie. 'Heute nacht gibt es Sturm.'"
Tatsächlich gehört zu Benedikts Beobachtungsgabe ein Auge für die Kuriositäten des Alltags, die sie, oft mehr oder weniger unkommentiert, protokolliert und für sich sprechen lässt. Es sind diese Szenen, an denen man merkt, dass ihre Texte mehr als bloße Notizen sind, die Momente sind ausgewählt, die Pointen gesetzt. Einmal gibt sie ein Gespräch auf einer Party wieder, bei der ein Mann eine Frau, die vor zwei Monaten ein Kind bekommen hat, überreden will, mit ihr zu schlafen: "'Wenn Sie Angst haben, wieder schwanger zu werden', sagte Rawdon-Smith, 'meine Frau hat sechzig verschiedene Arten und Größen von Kontrazeptiven. Eines paßt Ihnen sicher, Sie könnten es ausborgen.'"
Benedikt macht sich durchaus über andere Leute lustig, trotzdem sind ihre Texte stets empathisch und voll ehrlichem Interesse an ihrem Gegenüber. Zwei Dinge, die sie in den Texten anderer mitunter vermisst und die ihre eigenen deshalb vielleicht nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus literarischen Gründen prägen. So schreibt sie einmal, mit gewohnt klarem Urteil, über Marcel Proust: "Und dann denke ich über Proust nach und denke, wie schön es wäre, wenn er, neben all seiner Klugheit, neben all seiner Feinheit, wenn er sich daneben auch noch ein wenig echte Leidenschaft hätte abgewinnen können (...)."
Der Krieg ist in "Warte im Schnee vor deiner Tür" immer präsent, doch kommen die existenziellen Ängste, das Elend, das er mit sich bringt, auf subtilere Weise vor, als man es sich von einem Tagebuch über die Kriegsjahre von einer Frau, die vor den Nazis geflogen ist, möglicherweise erwarten würde. Benedikt hat sich fest vorgenommen, sich nicht unterkriegen zu lassen, sie ist ehrgeizig und will ihr Leben so normal wie möglich weiterführen. Ihr sei, schreibt sie "diese Unterbrechung, die diese Emigrantenzeit für neunzig Prozent der Flüchtlinge ist, unerträglich". Der Gedanke, einmal nach Wien zurückzukehren, ohne etwas erreicht zu haben, ist ihr ein Graus. Sie vernetzt sich und schreibt an ihren Romanen. Niemals suhlt sie sich dabei in Selbstmitleid: "Ich glaub", schreibt sie einmal, nachdem sie einen wieder besonders niedergeschlagenen Freund getroffen hat, "Menschen haben nur eine limitierte Kapazität sowohl für Glück wie für Unglück, egal unter welchen Lebensumständen. Und ich habe nur etwa so viel Kapazität zum Unglücklichsein wie er zum Glücklichsein."
Trotzdem brechen die Schwierigkeiten und die Traurigkeit des Alltags im Verlauf des Buchs zunehmend mehr hervor. Manchmal verlässt Benedikt ihre Lebenslust, und aus der Melancholie, die auch ihre früheren Texte immer wieder durchzieht, wird etwas Schwereres, Bedrückenderes. Ihre Neugier auf andere lässt nach, sie schreibt weniger und ist lustlos.
In einer der eindrücklichsten Szenen des Buchs sitzt Benedikt im November 1944 abends im Bus und fährt durch die stockdüsteren Straßen von Camden. Sie spricht, wie sie es eben immer tut, mit andern Fahrgästen und lauscht den Gesprächen um sie herum. Und sie beschreibt das Elend des Krieges nur indirekt, aber eindrücklicher, als es die Schilderung einer Bombennacht vielleicht könnte, mit Sätzen, die erschütternd und hoffnungsfroh zugleich sind: "Später hörte ich jemanden sagen: 'Bis dann, Kumpel. Wir sehen uns morgen früh.' Mit einem Mal durchströmte mich unglaubliche Erleichterung. Wir sehen uns morgen früh, hatte der Mann gesagt, so als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel, als könnte nichts passieren bis zum nächsten Morgen, als gäbe es keine Bomben, die einen umbringen, und keine Häuser, die über einem einstürzen, und keine Raketen, die einen in Stücke reißen. Es war, als ob der Morgen bereits gekommen wäre, als ob das helle Tageslicht schon durch das Fenster strömte und die zwei Männer sich bei der Arbeit trafen und einander grüßten. Ich war so glücklich, daß ich fast geweint hätte."
Friedl Benedikt: ",Warte im Schnee vor deiner Tür'. Tagebücher und Notizen für Elias Canetti". Hrsg. von Fanny Esterházy und Ernst Strouhal. Zsolnay, 336 Seiten
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