Besprechung vom 09.01.2025
Durch den dunklen Schacht ins Licht
Konkrete Poesie des theoretischen Fahrstuhls: "Die Intuitionistin", der erste Roman des Bestsellerautors Colson Whitehead, erscheint jetzt auf Deutsch.
Erst als Elisha Graves Otis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den absturzgesicherten Fahrstuhl erfand, wurde die Skyline moderner Metropolen denkbar. Eine treppensteigende Menschheit hätte keine Wolkenkratzer aus Stahlbeton und Glas errichtet. Nimmt man hinzu, dass der Aufzug als Metapher für Auf- und Abstiege aller Art kaum zu überbieten ist, erstaunt es, dass dieses Wundermittel vertikalen Transports in der Literatur eine so geringe Rolle spielt.
Das wird sich auch der inzwischen vielfach preisgekrönte Schriftsteller Colson Whitehead gedacht haben, als er ein triftiges Thema für seinen Debütroman suchte. "Die Intuitionistin", im Original erschienen 1999 und jetzt neu übersetzt von Henning Ahrens, spielt in einer Fahrstuhlmetropole, die Whiteheads Heimatstadt New York zumindest sehr ähnelt. Es entfaltet sich eine aberwitzige Geschichte um zwei verfeindete Denkschulen des Aufzugswesens. Da sind die "Empiristen", die in alter Art ihren Schraube-und-Bolzen-Positivismus pflegen und unermüdlich Materialermüdungen prüfen. Ihnen stehen die "Intuitionisten" gegenüber, bei denen das Technische ins Mystische übergeht. Sie räsonieren über die existenzielle Finsternis des Fahrstuhlschachts und arbeiten bei der Aufzugsprüfung weniger mit dem Schraubenschlüssel als mit Einfühlung - man "erspürt" die Macken. Als Bibel des Intuitionismus gilt das zweibändige Werk "Theoretische Fahrstühle" eines gewissen James Fulton.
In funkelnder Wissenschaftsparodie stellt Whitehead die Interna der Fahrstuhl-Gilde dar, erfindet eine Fachzeitschrift namens "Lift" und eine "Akademie für vertikalen Transport", an der es unter anderem Dozenten für "Rolltreppenkunde" gibt. Lila Mae Watson, die Heldin des Romans, hat als erste schwarze Studentin diese Akademie absolviert. Jetzt ist die gelernte Intuitionistin die "erste farbige Frau in der Fahrstuhlinspektionsbehörde", in jeder Hinsicht also die Verkörperung von Aufstieg.
Zu Beginn ist Lilas Karriere allerdings gefährdet durch einen schweren Unfall. Ein Fahrstuhl ist abgestürzt, als der Bürgermeister gerade eine Probefahrt machen wollte. Lila Mae ahnt bald, dass es sich um Sabotage an einem neuen Kabel handelt. Leider fällt der Verdacht auf sie selbst, weil sie kurz zuvor noch den Fahrstuhl gewartet hatte. Eigentliches Ziel der Sabotage aber scheint die intuitionistische Fraktion überhaupt zu sein, denn es tobt ein Machtkampf kurz vor der Wahl des Präsidenten der Fahrstuhlbehörde. Lila Mae macht sich nun auf eigene Faust auf die Suche nach den überaus verwinkelten Hintergründen. Sie muss erkennen, dass in der Fahrstuhlszene mafiöse Zustände herrschen, es wird spioniert und eingeschüchtert, auch Lilas Wohnung wird gefilzt und verwüstet. Das alles erinnert an Gangsterfilme der Noir-Tradition - schon in seinem Debüt gefällt sich Whitehead im Spiel mit dem Genre. Liebevoll zeichnet er zwielichtige Hausmeistertypen, eitle Reporter und fiese Fingerbrecher.
Weil die Ermittlung des Fahrstuhlfalls aber doch etwas lahmt, sorgt Whitehead für einen weiteren Plot-Booster: die Jagd nach James Fultons nachgelassenen Tagebüchern und seinen Entwürfen für die sogenannte Black Box, eine Chiffre für die "zweite Elevation" mittels des "perfekten Fahrstuhls", der als "Sprungbrett in den Himmel" und Vehikel sozialer Utopie gedacht wird. Indem Lila Mae Watson das Vertrauen von Fultons ehemaliger Haushälterin gewinnt, kommt sie der Entdeckung der "Black Box" immer näher.
Eingebaut in den Roman sind viele Miniaturen über Rassismuserfahrungen im Alltag schwarzer Menschen. Das "Unrecht, das ihrer Rasse angetan wurde" treibt Lila Mae um - und es ist seit je das zentrale Motiv in Whiteheads Werken wie "Underground Railroad" und "Die Nickel Boys". Bereits "Die Intuitionistin" ist ein komplexer Hautfarben-Roman, und zwar nicht nur weil Lila Mae in ihrer "weißen" Firma und schon als Studentin häufig Ausgrenzung erlebt: "Sie hauste in der Besenkammer, weil es in der Akademie für Vertikalen Transport keine Zimmer für farbige Studenten gab." Sondern vor allem auch weil James Fulton, das Mastermind der Intuitionisten, in Wahrheit ein Farbiger war, der wegen seines hellen Hauttons unerkannt blieb, ein "Spion in weißen Gefilden". Seine Karriere und sein Ruhm basierten auf Verstellung; die "Lüge seiner weißen Haut" und der Selbsthass bestimmten sein Leben. Seine Theorie entwickelte er als bitteren Spott auf jene Menschen, die sich mit der "Oberfläche" und dem äußeren Anschein begnügen - eben die "Empiristen". Nach Fulton gibt es hinter der sichtbaren Welt noch eine andere. Dann machte er allerdings die Erfahrung, dass seine spekulative Fahrstuhl-Philosophie so ernst genommen wurde wie viele krude Theorien. Und so legte er in einem zweiten, vollends kryptischen Werk über die Transzendenz des Fahrstuhls noch einmal nach.
In Whiteheads raffinierter Hautfarben-Semantik ist auch eine Bezeichnung wie "Black Box" mehrsinnig. Auf der anderen Seite erscheint er schon in seinem Debüt als ein Autor, der es mit den "weißen" Meistern aufnimmt. Viele Vorbilder schimmern durch, insbesondere die Verschwörungscomedy eines Thomas Pynchon und der Detailfetischismus von Nabokov oder Updike. Allerdings zeigt "Die Intuitionistin" auch einige Schwächen der Überambitioniertheit. Die Handlung verliert an Zugkraft durch allzu viele clevere Winkelzüge, und der unbedingte Wille zur Originalität bringt dem Buch neben Sprachwitz auch Stilblüten ein. Als Lila im Straßenverkehr von einer anderen Fahrerin angehupt wird, heißt es prätentiös: "Der helle Ton zeugt von der Geburt ihres Autos im Ausland, von Wiegenliedern in fremden Zungen." Bisweilen kommt es zu Metaphern-Karambolagen, wie bei der Beschreibung von James Fultons Haushälterin: "Marie-Claire ist eine kleine Frau, eine Hütte auf kräftigen, stämmigen Beinen, (...) ein Rind im leuchtend roten Sommerkleid, (...) ein verbitterter, alter Vogel."
Solche Formulierungen entfalten leider einige Bremswirkung. Dennoch ist "Die Intuitionistin" die starke Talentprobe eines Autors, der hier den Fahrstuhl in den Literaturbetrieb besteigt. Längst ist er in einer der oberen Etagen angekommen. WOLFGANG SCHNEIDER
Colson Whitehead: "Die Intuitionistin". Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser Verlag, München 2024. 272 S., geb.
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