Besprechung vom 20.01.2025
Mit großer Geste zur Nachhaltigkeit
Auf der Suche nach einem guten Leben für alle
Das hier zu besprechende Buch wendet den "Survivalguide für unseren Planeten", den der Club of Rome 50 Jahre nach "Die Grenzen des Wachstums" publiziert hat, auf Deutschland an. Der Club und das Wuppertal Institut veröffentlichen diesen Text gemeinsam und legen einen Plan vor, mit dem der "Aufbruch in eine Zukunft für Alle" gelingen soll. Nach einer Einführung im ersten Kapitel trifft das zweite Kapitel eine Feststellung, der wohl viele zustimmen werden: "Etwas stimmt nicht in Deutschland." Es gebe die Sorge, "dass es so nicht weitergehen kann".
Nach dieser Skizze der Lage und dem dringlichen Hinweis auf die globale Verantwortung des Landes folgen fünf Kapitel zu "Wenden", die aus Sicht der Autoren unabweisbar sind, soll eine nachhaltige Zukunft möglich werden. Bei der Armutswende geht es vor allem um Gerechtigkeitsfragen, bei der Ungleichheitswende um Verteilungsthemen, bei der "Empowermentwende" steht die Gleichberechtigung der Geschlechter im Vordergrund, die Ernährungswende adressiert Gesundheit und Naturnutzung, die Energiewende steht für den flächendeckenden Einsatz erneuerbarer Energien. Je ein Kapitel zur zirkulären Ökonomie und zur gesellschaftlichen Anwendung der Erkenntnisse des Buches schließen den Text ab.
Anders als viele Texte zur Nachhaltigkeitstransformation thematisiert das Buch nicht nur ökologische Fragen, sondern adressiert soziale Themen und stellt diese sogar in den Vordergrund. Das systematische Zusammendenken von Umwelt, Sozialem und wirtschaftlichen Fragen ist eine Stärke des Buches. Ein weiteres Verdienst des Textes liegt in den Hinweisen auf zentrale Themen der Transformation, die oftmals unterbelichtet bleiben: die große Bedeutung von Politikkonsistenz, die Ressourcenintensität der Energiewende, die lange unterschätzte Rolle von Infrastrukturerhaltung auch für die Nachhaltigkeit, das Zusammenspiel veralteter gesellschaftlicher Rollenbilder und juristischer Regelungen.
"Earth for All Deutschland" hebt sich also durchaus ab von anderen Texten zur Nachhaltigkeit. Freilich teilt das Buch mit zahllosen Publikationen zum Thema etwas, das der Soziologe Armin Nassehi jüngst so brillant kritisiert hat: die große Geste. Natürlich ist auch hier von "nie da gewesenen Herausforderungen" die Rede, und entsprechend des Selbstverständnisses der Herausgeber geht es hier ums Ganze: das Überleben der Menschheit. Pläne, weitreichende Szenarien und drastische Eingriffe in die bestehende Ordnung prägen auch dieses Buch zur Transformation. Auch wenn man - wie der Rezensent - von der Notwendigkeit eines umfassenden Wandels zur Nachhaltigkeit überzeugt ist, kann man an der großspurigen Rhetorik (ver)zweifeln.
In dieser Hinsicht geht das Buch sogar noch weiter als die meisten Beiträge aus der diskursiven Blase der Transformationsdebatte: Das präferierte Szenario für den Wandel trägt tatsächlich den Titel "Giant Leap" - das bedeutet eben nicht "großer Wurf", sondern: "großer Sprung". Man muss nicht die Geschichte Ostasiens studiert haben, um bei dieser Formulierung an Mao Tse-tungs "Großen Sprung nach vorn" zu denken. Das desaströse Scheitern von Maos Ambitionen ist nicht der Punkt, sondern die Idee, dass man gesellschaftlich einen massiven, großen, koordinierten Schritt in eine erwünschte Richtung tut - und der Glaube, dass eine solche Aktion funktionieren und zum Guten führen könnte.
Neben den erwähnten Wenden ist die Kontrastierung dieses "Giant Leap"-Szenarios mit dem Szenario "zu wenig, zu spät" der argumentative Kern des Buches. Dabei wird auch versucht, beide Welten narrativ zu fassen - was gründlich danebengeht, weil hier offenbar die beste aller Welten dem Grauen des Raubtierkapitalismus gegenübergestellt wird. "Werbeflächen blinken grell, nervige Musik ertönt" heißt es einmal über "Too Little Too Late", während die Menschen in der Welt des "Giant Leap" Gemeinschaftsgärten bewirtschaften und Kinder freudig durch die Beete laufen, um leckeres und gesundes Gemüse einzusammeln. Klischeehafter geht es kaum.
Auch wenn man von der Notwendigkeit radikalen Wandels überzeugt ist, muss man das Buch nicht überzeugend finden. Die Bereitstellung von "Orientierungswissen" ist löblich und unverzichtbar - aber ein Abgleich der hier formulierten Visionen mit der gesellschaftlichen Realität wäre angebracht gewesen. "Transformation ist mehrheitsfähig" ist eine Behauptung, die mit Blick auf die Wahlergebnisse des letzten Jahres wie naives Wunschdenken wirkt. Gerade weil "Wenden" in Bereichen wie Armut, Ernährung und Energie so wichtig sind, ist diese Weltfremdheit ärgerlich.
Niemand weiß, welche Gestalt eine nachhaltige Gesellschaft letztlich haben wird. Es ist der Sache daher angemessen, die Rede von der Nachhaltigkeit als Such- und Lernprozess ernst zu nehmen. Dieser Prozess wird gewiss mehr durch viele originelle Ideen als den einen "großen Sprung" bestimmt. Dabei beeinflussen nicht nur politische Akteure den Gang der Dinge, sondern wesentlich auch Unternehmen, Forschende und Akteure aus der Zivilgesellschaft - das und die politische Wetterlage machen die Transformation kompliziert. Diese real existierenden herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse stärker in den Blick zu nehmen hätte dem Buch gutgetan. FRED LUKS
Club of Rome & Wuppertal Institut (Hrsg.): Earth for All Deutschland. Oekom Verlag, München 2024, 280 Seiten
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