Besprechung vom 11.09.2024
Dem Durchbruch folgte die Kündigung
In einer packenden Biographie schildert die Impfpionierin Katalin Karikó ihren steinigen Weg auf den Olymp der Wissenschaften.
Nach Alfred Nobels 1895 verfasstem Testament sollten drei Fünftel der Zinsen aus seiner Stiftung jährlich Forschern zugeteilt werden, "die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben, dadurch daß sie auf dem Gebiet der Physik, der Chemie und der Physiologie oder Medizin die wichtigste Entdeckung oder Verbesserung gemacht haben". Nobel wollte damit ausdrücklich jungen, um ihre Anerkennung ringenden Wissenschaftlern in den Steigbügel helfen. Nicht oft haben sich die Nobel-Komitees allerdings an dieses Vermächtnis gehalten. Immer mehr wurde der Nobelpreis zum krönenden Abschluss einer Wissenschaftlerkarriere. Die Beschränkung der Leistung auf das zurückliegende Jahr machte ebenfalls Probleme. In den Statuten hieß es deshalb bald, dass auch Leistungen ausgezeichnet werden können, deren Bedeutung erst im vergangenen Jahr sichtbar geworden sei.
Das gilt mit Sicherheit für den Medizin-Nobelpreis 2023, den die damals 68 Jahre alte ungarisch-amerikanische Biochemikerin Katalin Karikó gemeinsam mit dem amerikanischen Immunologen Drew Weissman erhielt. Karikós drei Jahrzehnte lange Forschung über Immunaktivierung führte zu einer Technologie mit dem modifizierten kurzlebigen Botenstoff mRNA, die es in der Covid-19-Pandemie ermöglichte, innerhalb von einem Jahr bei Biontech/Pfizer und Moderna Impfstoffe zu entwickeln. Sie be-wahrten weltweit Millionen von Menschen vor den schlimmsten Folgen des mörderischen Virus.
Katalin Karikó ist die vorläufig letzte von insgesamt zwölf Frauen, die im Verlauf von 76 Jahren einen Medizin-Nobelpreis zuerkannt bekamen. Mit sieben Medizin-Nobelpreisen an Frauen haben die Vereinigten Staaten den Löwenanteil in diesem Fach gewonnen. Offenbar bot das Land lange die besten Chancen für aufstrebende Wissenschaftlerinnen, zumal wenn sie sich geduldig und fast unsichtbar wie etwa Barbara McClintock in einem wenig beachteten Randbereich hocharbeiteten. Auch Katalin Karikó machte sich 1985 im Alter von dreißig Jahren nach Amerika auf, mit einem Ehemann ohne Greencard, einer zwei Jahre alten Tochter im Schlepptau und 1200 Dollar Ersparnissen, eingenäht in den Teddybär des Kindes. Sie ging notgedrungen in die Vereinigten Staaten, weil sie in Europa keine passende neue Stelle fand, als sie am ungarischen Biological Research Center in Szeged aus Finanzgründen überraschend gekündigt worden war. Eine existenzielle Erfahrung, wie sie sie noch mehrfach in ihrem weiteren Forscherleben durchstehen musste.
Die Berichte über solche Rückschläge und Widrigkeiten häufen sich in ihren 2023 in New York erschienenen, jetzt ins Deutsche übersetzten Memoiren "Durchbruch" (btb/Random House, München 2024). Das Buch, entstanden unter Mitwirkung der amerikanischen Autorin Ali Benjamin, collagiert Karikós komplizierte Wissenschaft mit ihrem privaten Weg als Forscherin zu einer spannenden Mixtur. Es macht deutlich, wie viel harte Arbeit, Durchhaltevermögen, Mut und ungeheuren Fleiß die Ungarin lebenslang brauchte, um auf den Olymp der Wissenschaft aufzusteigen. Auch von anderen Nobel-Kolleginnen gibt es Berichte, wie schwer es war, sich in der von Prestige, Macht, Privilegien und Vorurteilen geprägten Männerwelt der Physik, Chemie und Medizin durchzusetzen. Selten ist das bisher aber so packend und lebendig erzählt worden.
Nicht nur in ihrer Begeisterung für wissenschaftliche Erkenntnis und ihrem zähen Arbeitswillen ähnelt Katalin Karikó ihren Vorgängerinnen. Keine von ihnen scheint je sonderlich viel Wert auf die äußeren Attribute weiblicher Schönheit gelegt zu haben. Auch Karikó, als Studentin groß, mager, kurzhaarig und ohne zeitraubende Dates, war offenbar uneitel und hielt es wie Barbara McClintock, die von Jugend an nie Lust verspürte, "den eigenen Torso zu dekorieren". Maxime weiblicher Lebensfreude war für sie eher, was schon Gerty Cori formulierte: "die Liebe zur Arbeit und die Hingabe daran". Auffallend oft tauchen auch bei anderen Kolleginnen die Worte "Vergnügen" und "Spaß" im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Arbeit und ihrem jeweiligen Fachgebiet auf. Karikó spricht sogar von "Spiel": "Von all den Lektionen, die mich auf ein Leben als Wissenschaftlerin vorbereitet haben, ist dies vermutlich die wichtigste: dass Arbeit und Spiel ineinander übergehen, sogar verschmelzen können, sodass allein die Vorstellung eines Unterschieds bedeutungslos wird."
Bei solchen Präferenzen kommt als Ehemann, wenn überhaupt, nur infrage, wer die beruflichen Ambitionen seiner Frau teilt. Im Gegensatz zu den meisten Nobel-Frauen, die in Wissenschaftlerkreisen heirateten, fand Karikó allerdings früh in dem fünf Jahre jüngeren Absolventen einer Technikerschule den richtigen Partner. Béla Francia akzeptierte, dass ihre Forschung an erster Stelle stand und auch für die gemeinsame Tochter Zsuzsanna nur wenig Zeit blieb.
Katalin Karikó, geboren 1955, stammt nicht aus dem akademischen Mittelklassemilieu wie die meisten ihrer Nobel-Kolleginnen, sondern wuchs in bescheidenen Verhältnissen im damals noch kommunistischen Nachkriegsungarn auf. Ihr Vater war Metzger und nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gegangen, die Mutter bis zur achten und dann Buchhalterin im örtlichen Parteibüro geworden. Die Lebensbedingungen im kaum heizbaren Lehmhaus ohne fließendes Wasser waren hart und entbehrungsreich, aber die Eltern zugewandt und liebevoll, und der Staat ermunterte immerhin zu Bildung. "Es waren die Lehrer, die es diesem Kind aus einem Arbeiterhaushalt im kommunistischen Nachkriegsungarn ermöglichten, die Welt zu verstehen . . . und diese auf ihre ureigenste Weise zu verändern", sagt Karikó in ihrem Buch. Sie beschreibt sich als zunächst durchschnittliche Schülerin, die aber bald wusste, dass sie Wissenschaftlerin werden wollte und dafür früh mehr als andere lernen musste. 1972 begann sie ein Biologiestudium an der Universität Szeged. 1982 machte sie dort ihren Doktor in Biochemie. Sie arbeitete weiter an der Synthese der erst 1960 entdeckten RNA, bis ihr Labor die Finanzierung für ihr Projekt verlor und sie 1985 kündigte.
In den Vereinigten Staaten forschte Karikó großenteils im Verborgenen unter schwierigsten Umständen an mehreren Universitäten und medizinischen Fakultäten. Sie kämpfte gegen Kakerlaken, dürftige Labors, Abschiebedrohungen von Chefs, Missachtung und Spott von Kollegen sowie permanente Forderungen nach Drittmitteleinwerbung. Als sie endlich in Philadelphia gemeinsam mit dem Immunologen Drew Weissman den wissenschaftlichen Durchbruch in Sachen mRNA geschafft hatte, wurde sie kurz vor Weihnachten 2012 von der Pennsylvania University buchstäblich vor die Tür gesetzt. Angeblich, weil ihr Labor anderweitig benötigt würde. Sie machte sich erneut auf Jobsuche, landete als Senior Vizepräsidentin bei der Mainzer Firma Biontech und blieb dort bis 2022. Das Happy End mit der erfolgreichen Impfstoffentwicklung in der Covid-19-Pandemie ist heute Wissenschaftsgeschichte.
Karikós Buch schließt 2022 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Rockefeller University in New York, der achten seit 2021. Vier weitere weltweit kamen noch danach, vor allem aber 2023 der Medizin-Nobelpreis. Er wird in ihren im gleichen Jahr erschienenen Memoiren nicht mehr behandelt, auch nicht in deren deutscher Übersetzung. Vielleicht war er nicht mehr so wichtig für sie. Die halbe Million Euro Preisgeld hat sie ihrer Alma Mater, der Universität Szeged, gestiftet, an der sie bis heute Professorin ist und weiter zu RNA forscht. ULLA FÖLSING
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