Sachbuchbestenliste von Die Literarische Welt, WDR 5, Neue Zürcher Zeitung und ORF1
Der populistische Appell an das »Volk« und die Mobilisierung gegen die »Eliten« dominieren mittlerweile die Politik in vielen Ländern der Welt. Aber wo liegen die geschichtlichen Wurzeln dieser Politikform? Und wie hängt sie mit gesellschaftlichen Krisenprozessen zusammen? Welche Spielarten des Populismus sind zu unterscheiden und was ist ihr Verhältnis zu Demokratie und Verfassung? Kolja Möller verfolgt die Wege des Populismus, die bereits im 11. Jahrhundert beginnen und bis zu den jüngsten Konflikten im Zuge der Globalisierung führen, und er entwickelt eine umfassende Gesellschaftstheorie dieser Politikform. Ein unverzichtbares Buch, um die gegenwärtige populistische Welle zu verstehen.
Besprechung vom 23.10.2024
Dient der Staat wirklich dem allgemeinen Wohl?
Frei flottierende Unzufriedenheiten: Kolja Möller spürt den Ursachen populistischer Spielarten nach
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Wenn man sich durch dreihundert Seiten systemtheoretischer Begriffsdiskussion und rechtsgeschichtlicher Gelehrsamkeit, durch nicht enden wollende Exkurse über Systemdifferenzierung, -Kopplung, -Evolution und Semantik gekämpft, sich in die Korporationslehre der mittelalterlichen Kirche und die Paradoxien von Kirchenvolk und Gottesvolk, Amtskirche und Volkskirche hineingedacht hat, ohne sich im Wirrwarr der aufgedröselten Volksbezüge in den politischen Kämpfen der oberitalienischen Stadtstaaten des Hochmittelalters und der Renaissance zu verlieren und selbst dann noch am Ball geblieben ist, als das Buch den Leser auf die verzweigten Pfade der Revolutions-, Reform-, Staats- und Bewegungsdebatten des europäischen Marxismus des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts führen zu müssen meinte, wobei man manchmal nicht mehr sicher ist, ob selbst der Autor weiß, wohin es gehen soll - dann, ja dann hat man mit "Volk und Elite" eine gelungene Studie zum Phänomen des Populismus in den Händen, die überzeugend erklärt, wieso in schlichtweg jeder demokratischen Verfassung populistisches Agieren "als Kommunikations- und Handlungsoption angelegt" ist. Ohne geht es einfach nicht. Doch wieso?
Kolja Möller ist Politik- und Rechtstheoretiker, seine Habilitationsschrift - das mag einige unnötige Ausflüge und Längen erklären, wenn auch nicht unbedingt entschuldigen - ist die textliche Grundlage des hier zu besprechenden Buches. Sein verfassungstheoretischer Zugriff hat den seltenen Vorteil, im Aufstieg populistischer Parteien, wie er seit einigen Jahren zu beobachten ist, mehr sehen zu können als ein Diskurs- oder Einstellungsphänomen. Ressentiments und daran anknüpfende rhetorische Kämpfe gibt es in der Gesellschaft zuhauf. Diese frei flottierenden Unzufriedenheiten sind nicht besonders erklärungsbedürftig. Interessanter ist dagegen die Frage, wieso sie sich gerade in populistischer Form, das heißt in der Variante einer polemischen Gegenüberstellung von Volk und Elite, äußern.
Genau hier setzt Möller an. Seiner Analyse zufolge haben Verfassungen, die sich auf die Souveränität des Volkes berufen, eine latente Neigung zu populistischem Aufbegehren: Bundestagsabgeordnete nennen sich selbst "Volksvertreter", Bundesminister werden auf das deutsche Volk vereidigt, Richter urteilen "im Namen des Volkes". So gut wie alle höheren Institutionen und Normen des demokratischen Staates "verweisen darauf, dass man die jeweilige Verfassungsordnung als vom Volk gegeben begreifen soll".
Populistische Parteien und Bewegungen leben von dieser Fiktion. Sie nehmen die in der Grammatik demokratischer Verfassungen eingeschriebenen Rückverweise auf das Volk wahr, um die etablierten Parteien und Staatseliten in ihrer Macht zu bedrohen oder gar zu ersetzen. Daraus lässt sich schlussfolgern, so Möller, dass die typisch liberale Populismuskritik, hier nehme eine einzelne Partei autoritärerweise in Anspruch, exklusiv das Volk zu vertreten, ins Leere läuft - auch wenn sie zutrifft.
Es mag zwar richtig sein, dass auf populistische Wahlerfolge mitunter Verfassungsänderungen folgen, die den demokratienotwendigen Pluralismus zerstören, aber da die Verfassungsordnung als Ganzes selbst ständig auf die Rechtfertigungsfiktion "Volk" zurückverweist, können Bezugnahmen auf dieses schlechterdings nicht skandalisiert werden. Wo immer es zu sozialen Krisen kommt ("Krisen der Ko-Evolution sozialer Systeme" in den Worten des Autors), entstehen "populistische Momente". Grundsätzliche Fragen finden dann wieder Gehör: Ist die Gesellschaft gut organisiert? Dient der Staat dem allgemeinen Wohl? Entspricht sein Handeln dem Willen des Volkes? Ein einfacher Antipopulismus, der darauf verweist, dass der Volkswille sich immer nur im Nachhinein, gemäß den Verfahren des politischen Systems, äußern kann, ergibt in diesen Situationen keinen Sinn mehr. Denn ob die hergebrachten Parteien, Institutionen und Normen noch als Verwirklichung ihres sie rechtfertigenden Grundes begriffen werden können, steht ja gerade infrage.
Das im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat herrschende "Verkörperungsverbot" des Volkes, so sinnvoll es unter Normalbedingungen auch ist, wird im Moment der Krise selbst zum Problem. Ja, schlimmer noch: Indem es den staatlichen Organen erlaubt, "sich als unhinterfragbaren Ausdruck der Volkssouveränität zu inszenieren", scheinen sie der "Gesellschaft die verfassungsgebende Macht zu entwenden" - und delegitimieren sich damit nur umso mehr. Statt populistischen Parteien implizit den exklusiven Anspruch auf direkte Volksvertretung zu überlassen, müsse es, folgt man dem Autor, viel eher darum gehen, "die rebellischen Impulse und die Öffnung der Politik gerade nicht dem identitären Populismus preiszugeben". Nicht ihr seid, sondern wir sind das Volk - so lautet die Antwort Möllers auf die Herausforderung des Populismus. Man darf aber bezweifeln, dass diese Antwort auch Volksparteien überzeugen kann, die diesen Staat über Jahrzehnte, teilweise über ein Jahrhundert hinweg mit aufgebaut haben und denen es naturgemäß schwerfällt, gegen seine Prozeduren zu polemisieren.
Trotz dieser etwas leichtfertigen Empfehlungen beweist das Buch ein gesundes Misstrauen gegenüber der Semantik des politischen Systems und seiner Beobachter. Vorbild ist die marxsche Polemik gegen den bloß "politischen Verstand": Ein "demokratischer Populismus", der die ausgebrochene Rechtfertigungskrise offensiv beantwortet und selbst auf die Souveränität des Volkes Bezug nimmt, kann allzu leicht in die Falle laufen, "soziale Widersprüche in bloße Willenskollisionen" zu übersetzen. Als ginge es nur darum, rhetorisch besonders nachdrücklich und außergewöhnlich willensstark gegen den Status quo zu Felde zu ziehen. "Dann werden", wie es in einer gelungenen Wendung heißt, "verfassungsgebende Versammlungen einberufen, um ökonomische Krisen zu lösen, und Hymnen gesungen, um die Verwaltung zu reformieren."
Eigentlich ginge es also darum, dem in der Volkssouveränität angelegten "Versprechen einer kollektiven Wirksamkeitserfahrung" wieder reale Geltung zu schaffen. Das allerdings bedeutet weit mehr, als im Namen des Volkes Regierungen stürzen zu dürfen: Man müsste wieder in der Lage sein, in die Evolution des wirtschaftlichen Systems steuernd einzugreifen. Man ahnt jedoch, dass die schlagkräftigen Verwaltungsapparate, die es dafür bräuchte, mit allzu viel "Hierarchieumkehr" und "Gegenmacht" nur wenig anfangen könnten. OLIVER WEBER
Kolja Möller: "Volk und Elite". Eine Gesellschaftstheorie des Populismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 371 S., Abb., br.
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