Sensibel und mitreißend erzählt Mikolaj Lozinski von einer einfachen jüdischen Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von ihrem Alltag, ihren Hoffnungen, Träumen und Reibereien - und von einer berührenden Verbundenheit in sich verdunkelnden Zeiten.
Die winzige Wohnung in der Goldhammerstraße platzt aus allen Nähten: Nathan Stramer, seine Frau Rywka und ihre sechs Kinder schlagen sich so durch. Nathan hat sein Glück zu Beginn des Jahrhunderts in New York gesucht und ist nach einigen erfolglosen Jahren wieder nach Galizien zurückgekehrt. Sein Geschäftssinn ist so ungebrochen wie trügerisch - Tausende Kerzen, leider ohne Dochte, dann der Wagen voll Kolophonium, wie hätte er ahnen können, dass es so wenige Geiger gibt in Tarnów?
Nebenbei versucht er, seine sechs Kinder auf den Weg zu bringen. Aber die Kinder haben ihre ganz eigenen Wege im Sinn. Und während Nathan sich in die nächste Geschäftsidee versteigt, die ihnen endlich den Umzug in die Neue Welt, das elegante jüdische Viertel mit den Buntglasfenstern und den verzierten Erkern bringen soll, wachsen die Kinder heran. Die Zeiten werden härter, der wachsende Antisemitismus vergiftet die gesellschaftliche Atmosphäre immer stärker. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen scheint das Ende der Familie vorgezeichnet.
Besprechung vom 20.02.2025
Das Leben der Juden von Tarnów
Assimilation und Kommunismus: Mikolaj Lozinskis Familienroman "Stramer"
Es passierte nicht oft, dass die meisten Mitglieder einer jüdischen Familie in Polen die Schoa überlebten. So geschah es in der Familie des Schriftstellers Mikolaj Lozinski, wie er in Interviews in seiner Heimat mitteilte. Inspiriert von diesem Umstand schrieb er "Stramer" - eine liebevoll und mit Leichtigkeit und Wärme erzählte Geschichte über den familiären Zusammenhalt angesichts einer zunehmend bedrohlichen Welt.
Lozinski gehört der dritten Generation der Nachgeborenen an. Seinem Roman ging eine tiefgründige Recherche voraus. In die Narration streut er die notwendigen Hintergrundinformationen ein, sein Buch ist jedoch viel mehr als eine bloße geschichtliche Annäherung. Ähnlich wie sein großer Vorgänger, der Literaturnobelpreisträger Isaac B. Singer, der seine Erinnerung an die jüdische Welt der Vorkriegszeit in der Warschauer Krochmalna-Straße literarisch festhielt, macht Lozinski das jüdische Leben in der Goldhammer-Straße in der Stadt Tarnów samt der Gefühlswelt ihrer Bewohner nachvollziehbar. Nicht zu unterschätzen ist auch Lozinskis Humor, der dem des tschechischen Erzählmeisters Bohumil Hrabal ähnelt, an vielen Stellen aber auch an die Tradition der jüdischen Witze denken lässt.
Sein Fokus liegt auf dem prallen Leben, das in seiner ganzen Vielfalt geschildert wird, und Lozinsk zeichnet dabei neben den Hauptprotagonisten einen ganzen Kosmos weiterer Charaktere nach. Niemanden lässt er in seiner Vision perfekt erscheinen in diesem Roman und somit im polnisch-jüdischen Tarnów, einer Stadt achtzig Kilometer östlich von Krakau, die in der Zwischenkriegszeit 50.000 Einwohner zählte. Die Juden stellten 47 Prozent der Bevölkerung.
Das Zusammenleben in Tarnów funktionierte immerhin so gut, dass die Juden seit 1906 den stellvertretenden Bürgermeister stellten. Doch wie in der Universitätsstadt Krakau schleichen sich zunehmend Nationalismus und Antisemitismus in die Stadtgesellschaft ein, die sich auch im Leben der Stramers bemerkbar macht. Ein jähes Ende der Koexistenz kommt mit dem zivilisatorischen Zusammenbruch - dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Erzählerisch spannt Lozinski den Bogen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an, als der spätere Familienpatriarch Nathan, ehedem mit seinem Bruder nach New York aufgebrochen, nach Tarnów zurückkehrt. Nathan gründet mit seiner Jugendliebe Rywka eine Familie, und sie ziehen ihre sechs Kinder groß - in kleinen Verhältnissen zwar, jedoch in uneingeschränkter Liebe.
Gefühle spielen im Leben der Stramers eine größere Rolle als das Kapital, das ihnen notorisch fehlt. Die Eltern sprechen zu Hause Jiddisch, ihre Kinder schicken sie auf eine polnische Schule, zusammen mit achtzig Prozent der jüdischen Kinder im damaligen Tarnów. Dabei gelingt es Lozinski hervorragend, den Weg der polnischen Juden hin zu der Assimilation in der Zwischenkriegszeit nachzuzeichnen. Zahlreiche Kontakte zu den nichtjüdischen Nachbarn werden von der jungen Generation gepflegt, und die schönen und intelligenten Töchter der Stramers verdrehen den christlichen Jungs die Köpfe.
Viele jüdische Organisationen sind in Tarnów tätig, vom linken Bund bis zu den Zionisten, auch der jüdische Sportklub ist dort erfolgreich. Doch die Stramer-Söhne lassen sich von den Ideen des Kommunismus verführen - sehr zum Unmut des Vaters.
Sicherlich ist es ein Verdienst der sehr guten Übersetzung von Renate Schmidgall, dass man schon von ersten Sätzen des Romans gefesselt ist und vom Gefühl begleitet wird, mittendrin in der kleinen Wohnung der Stramers zu sein und deren Sehnsüchte, Freuden und Ängste zu teilen. Die Kinder werden vom Autor unterschiedlich charakterisiert, auch die familiären Konstellationen verändern sich, beständig bleibt jedoch die Geschwister- und Elternliebe, vor allem der jiddischen Mame Rywka. Sie hält die Familie zusammen, ähnlich wie es wohl ihre chassidischen Vorfahren taten.
Der erhoffte wirtschaftliche Durchbruch bleibt für die Stramers unerreichbar, auch wenn der amerikanische Traum samt ein paar englischer Sprüche Nathan weiterhin begleitet. Immer wieder entwickelt der Patriarch neue Geschäftsideen. So kauft er besonders preiswert Tausende Kerzen ein, um danach festzustellen, dass sie ohne Docht sind. Und als er ein Café gründet, wird die ganze Familie eingespannt. Doch die Gäste sitzen lange an den Tischen und bestellen viel zu wenig. Nach jeder misslungenen Geschäftsidee streckt Nathan eine Depression nieder; den Kindern wird sie als Magenkatarrh erklärt. Als rettend für die Familie erweisen sich die Tüchtigkeit von Rywka sowie die finanzielle Unterstützung, die in kleinen Beträgen vierzig Jahre lang vom kinderlosen Bruder Ben in Briefen aus Amerika kommt. Offenbar hält die Familie auch über große Entfernungen hinweg zusammen.
Bildung spielt bei den Stramers eine wichtige Rolle, auch wenn das Schulgeld von den Kindern selbst mit Nachhilfeunterricht verdient werden muss. Der Drittjüngste, Salek, fühle sich in der Bibliothek wie in einem Laden mit Süßwaren, wo alles in den Regalen umsonst sei, verrät er seiner Mutter. Gelesen wird von den jungen Stramers viel: von Karl Marx bis zu den historischen Romanen von Henryk Sienkiewicz. Fast alle jungen Stramers studieren, auch die Töchter.
Als der Krieg ausbricht, fliehen die Kinder über die Grenze am Fluss San, um ins sowjetisch besetzte Lemberg zu gelangen. Die Enkelin Róza - das einzige Kleinkind in der Familie - wird im letzten Moment bei polnischen Bekannten versteckt, ein befreundeter Pfarrer stellt für das Kind einen Taufschein aus. Einer der Söhne ist bereits vorher nach Spanien aufgebrochen, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Später schließt er sich in Paris der Résistance an und finanziert seinen Lebensunterhalt als Porträtfotograf. Die Familienaufnahmen aus zwei Jahrzehnten bilden bei Lozinski ein Leitmotiv des einfühlsam und zugleich fulminant erzählten Romans, als Symbol und Mahnmal zugleich. Und so wird die Welt der Stadt Tarnów vor dem Zweiten Weltkrieg und der erbitterte Kampf der Juden ums Überleben angesichts der Schoa noch einmal etwas begreifbarer. JOANNA DE VINCENZ
Mikolaj Lozinski: "Stramer". Ein Familienroman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 411 S., geb.
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