Das Berlin der 1920er Jahre erscheint noch heute manchem als das Goldene Zeitalter einer modernen Stadt, aber hinter dem schimmernden Gold des Kudamms und den Charlottenburger Prachtbauten bedenkt man zu selten die Dunkelheit und Armut und die heraufziehende Gefahr des Nationalsozialismus und des immer aggressiver werdenden Judenhasses.
Mitten in dieses trubelige und anziehende wie abstoßende Stadt zieht es Luise, die gerade volljährig gewordene Frau aus Heidelberg. Sie will Kindergärtnerin werden und hat all ihren Mut und ihr Geld zusammengenommen, um sich diesen Traum zu erfüllen. Sie wohnt bei ihrer Tante, die zwar selbst recht freizügig lebt, aber sehr auf Etikette und Anstand ihrer Nichte wert legt.
Kaum ist Luise in Berlin, lernt sie per Zufall oder besser Unfall Bernhard kennen, der mit dem Kosenamen Bernie auch schon im Titel des Romans in Erscheinung tritt. Luise und Bernie, sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Sie aus einer katholischen kleinbürgerlichen Familie, er ein jüdischer Schlosser, der mit Mitte zwanzig noch bei seiner verwitweten Mutter und zusammen mit zwei Brüdern im Berliner Scheunenviertel lebt. Luise und Bernie werden ein Paar, Luise entscheidet sich für den schwierigen Weg des Giur, den Übertritt zum Judentum. Dass das wegen ihrer ersten Schwangerschaft etwas schneller gehen muss als normalerweise, ist noch die geringste Hürde.
Bernie ist nicht nur jüdischer Schlosser, er ist auch Gewerkschafter und SPD-Unterstützer. Dass er damit nicht nur die Nazis allgemein, sondern im Besonderen auch einen gewissen Kurt, der ein Auge auf Luise geworfen hatte, herausfordert, zeigt sich bald nicht nur in Form von Schlägen. Luise und Bernie leben immer mehr unter Druck und Angst, was sich nach Hitlers Machtübernahme noch verschlimmert. Bernie aber will sich auch durch Haft und Drangsalierungen nicht einschüchtern lassen.
Luise wird aus ihrer Familie ausgestoßen, die Mutter verweigert ihr jeden Kontakt. Nur ihre Schwester Tilda bleibt ihr erhalten, mit ihr hat sie einen berührenden Briefwechsel, bei dem man tief in ihr Innerstes blicken kann. Die Autorin nutzt diesen Briefwechsel als eine Möglichkeit, die Zerrissenheit von Luise zu offenbaren. Dass sie im Verlauf der Jahre Chana, Bernies Mutter, als Verbündete und Helferin in größter Not findet, ist um so schöner. Denn Chana war zuerst genau wie Luises Mutter furchtbar ungehalten über die nichtjüdische Freundin, wie auch später über die Heiratspläne ihres Sohnes.
Von den vielen Erlebnissen und Schrecken, die den beiden geschehen, möchte ich hier nicht schreiben, nicht nur, weil ich keine zu starken Spoiler mag, ich möchte jedem dieses Buch empfehlen, der sich mit der deutschen Geschichte in ihrer dunkelsten Zeit auseinandersetzen will. Dafür eignet sich auch diese tragische Liebesgeschichte. Und der Spannungsbogen hält bis zur letzten Seite.
Mich hat dieser Roman aus mehreren Gründen fasziniert und auch interessiert: Viele Geschichten der Unterdrückung, Verfolgung und des verlorenen Lebens jüdischer Familien spielen in einem vorrangig bürgerlichen, auch großbürgerlichen Milieu. Bei Rachel Soost habe ich dieses Mal eine jüdische Arbeiterfamilie aus dem ärmlichen Scheuenviertel kennengelernt, aber auch Bernie als jüdischen Gewerkschafter und SPD-Anhänger. Wie hart diese Familie Smedresman um alles kämpfen musste, ist mir sehr nahe gegangen. Andererseits ist die Konversion von Luise, die katholischen Glaubens war, keine Selbstverständlichkeit. Niemand kann sich das wohl heute vorstellen, dass dieser Übertritt zu einem anderen Glauben oftmals den totalen Verlust der Familienbindung darstellte. Aber Luise stellt ihre Liebe zu Bernie über alles andere. Das ist ungeheuer beeindruckend.
Rachel Soost hat in ihrem Roman tatsächliches Geschehen, Geschichte und Fiktion auf sehr eindringliche Weise verknüpft. Sie ging jahrelang auf Spurensuche, hat recherchiert und geschrieben, ich kann mir diese Mühe lebhaft vorstellen. Es ist nicht das Recherchieren allein, das die Buchvorbereitungen so mühsam macht, es ist das Erleben, ja Mitfühlen beim Entdecken jedes neuen Details. Das ist ein sehr schmerzhafter Prozess, den ich selbst mehrmals durchlaufen habe, als ich meine, nicht nur jüdische Familiengeschichte erforscht habe, und deshalb dieses Buch so sehr in mein Herz schließen konnte.
Beim Lesen von Nachwort und Danksagung kam es mir vor, als wären das Sätze, die ich auch hätte schreiben können oder so ähnlich geschrieben habe. Besonders berührte mich, dass der Ehemann der Autorin mit ihr alle Orte besuchte und mit ihr in die Archive ging, jahrelang allem zuhörte, wahrscheinlich auch ihre zeitweilige geistige Abwesenheit ertrug, wenn ihr eine Episode durch den Kopf ging und nicht verschwinden wollte. Ja, das ist meinem Ehemann auch passiert.
Ein einziges kleines Manko sehe ich im fehlenden Literatur- bzw. Quellenverzeichnis. Das hätte mich zusätzlich sehr interessiert, weil ich dort einerseits Parallelen zu Bekanntem, andererseits auch neue Bücher oder Quellen gefunden hätte.
Diese Kritik wird aber auf wunderbare Weise von der Autorin mit ihrem Instagram-Auftritt wieder wettgemacht. Dort hat sie mit vielen Posts und Reels über die Entstehungsgeschichte und ihre Recherchen und Gedanken ein Zeugnis abgelegt, dass jeder Leser als Hintergrundinformation nutzen sollte. Bei Instagram findet man Rachel Soost unter schwarzgraubunt, wie sie es auch im Impressum ihres Buches vermerkt hat.
Fazit: Ein wunderbares Buch, das weit über einen Liebesroman und eine Familiengeschichte hinausgeht. Ich würde gern mehr erfahren über das weitere Leben von Luise und Bernie. Auch wenn das angekündigte nächste Buch von Rachel Soost die Geschichte von Bernies Bruders Robin und seiner Ehefrau beschreibt, hoffe ich von den beiden noch etwas zu lesen, das mit dem traurigen Abschluss dieses Buches etwas versöhnt. Aber ich weiß, der Holocaust wird am Ende auch in diese Familie tiefe Wunden schlagen.
Mazel tov, liebe Rachel Soost.