Besprechung vom 07.04.2025
Böse Geister Amerikas
John Grisham und die Insel der Abenteuer
Auch im Krimigenre, vielleicht sogar gerade dort, gilt die für Romane oft beschworene Bedeutsamkeit des ersten Satzes. Im besten Fall löst er trotz Kürze schon Fragen aus, evoziert rätselhafte Bilder, erzeugt den Wunsch, mehr zu erfahren. Altmeister John Grisham, vor Kurzem siebzig geworden, weiß das. Der Autor so erfolgreicher und noch erfolgreicher verfilmter Kriminalromane wie "Die Akte", "Die Firma" oder "Der Regenmacher" lässt sein neues Buch "Die Legende" mit einem sehr reizvollen Satz beginnen: "Keiner der fünfzig Gäste trug Schuhe."
Wo mag so etwas üblich sein, fragt man sich sofort, und nachdem man schon vieles im Kopf durchgespielt hat, lautet die Antwort: bei einer Strandhochzeit in Florida. Die Braut ist Bestsellerautorin, die Hochzeitsgäste sind teils Freunde und Kollegen zugleich, manche davon neidisch, aber alle barfuß.
Wenn Grisham etwas gut kann, dann Lokalkolorit in wenigen Absätzen zu erzeugen. Das fiktive Camino Island, wo der Roman spielt, liegt fern der Metropolen, und in dieser vermeintlich paradiesischen Provinz des ansonsten durchdigitalisierten Amerikas gibt es tatsächlich noch einen Buchladen, der sogar sonntags Zeitungen anbietet: für touristische Yankees aus dem Norden, die zum Kaffee "Neuigkeiten von zu Hause verschlangen".
Also erst geht es um Schriftsteller, dann um Bücher und Zeitungen - lesen wir hier wirklich einen Krimi? Doch, denn das alles bietet nur den Rahmen für die unerhörte Begebenheit, die dann der Buchladenbesitzer Bruce Cable der Autorin Mercer Mann erzählt (beide kennen manche vielleicht schon aus zwei Vorgängerbüchern Grishams, die mit diesem zusammen die "Camino-Trilogie" bilden), versehen mit dem Hinweis: Daraus könnte sie ihren nächsten Bestseller machen. Das ist geschickte Werbung für den eigentlichen Plot des Buches: Er dreht sich um eine Camino Island noch vorgelagerte, geheimnisvolle Insel mit dem sprechenden Namen Dark Isle, auf der angeblich einst Sklaven lebten, die einem auf dem Weg nach Savannah zerschellten Schiff entkommen waren.
Die achtzigjährige Lovely Jackson, angeblich die letzte Nachfahrin der Inselbewohner, hat im Selbstverlag ein Buch über die Qualen ihrer Vorfahren veröffentlicht, das Bruce nun Mercer als Inspiration zu lesen gibt, und wir lesen es kapitelweise mit. Diese Parallelgeschichte ist schrecklich, aber teils auch schrecklich erzählt - ganz im Gegensatz zur Gegenwartshandlung, in der Mercer nun Lovely Jackson aufspüren und eine rücksichtslose Immobilienfirma Dark Isle erschließen will, um dort Eigentumswohnungen zu bauen. Möglich wäre das überhaupt erst, weil vor Kurzem ein Hurrikan so viel Sand verschoben hat, dass eine Brücke nach Dark Isle zu errichten einfacher wäre als in den Jahrhunderten zuvor.
So streut Grisham in seinen historischen Meta-Krimi auch noch ein Stück Klimafiktion ein, wirft ein paar wilde Pumas und Klapperschlangen auf der angeblich verfluchten Abenteuerinsel dazu, außerdem Archäologen, die sich mit Grabstätten von Sklaven auskennen - und das ist noch immer nicht alles. Denn der Autor, dessen sage und schreibe fünfzigstes Buch wir hier in Händen halten, ist ja vor allem als Experte für Justizdramen bekannt, und so stellt er Lovely Jackson einen rechtschaffenen Anwalt zur Seite, der schließlich vor Gericht beweisen soll, dass sie von Dark Isle stammt, somit die rechtmäßige Eigentümerin der Insel ist und das umweltschädliche Bauvorhaben verhindern könnte. Das Unternehmen Tidal Breeze, in diesem Roman sozusagen "die Firma", hat natürlich etwas dagegen, und somit wird die Sache spannend.
Grisham scheint daran gelegen, die Geschichte der Sklaverei und den Raubbau an der Natur als böse Geister Amerikas darzustellen, die sich nur schwer vertreiben lassen und immer wieder für schrecklichen Spuk sorgen. Und doch hat die beschriebene Selbstreflexivität der Erzählung bisweilen witzige Effekte; fast glaubt man manchmal und besonders am Ende, eine Satire auf den Buchmarkt zu lesen, der auch dieses Werk hervorgebracht hat. JAN WIELE
John Grisham:
"Die Legende".
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya. Heyne Verlag, München 2025. 383 S., geb.,
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