Mit Wärme, sprachlicher Kraft und feinem Witz erzählt Katharina Hagena von drei Menschen, drei Schicksalen - und zwölf Frühsommertagen an der Elbe, die alles verändern. Flusslinien ist ein so bewegender wie vielschichtiger Generationenroman über das Leben mit den Wunden, die uns zeichnen, und die Frage, wie man lernt loszulassen, zu vertrauen und weiterzuatmen.
Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin, jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Jeden Tag lässt sie sich von dem jungen Fahrer Arthur in den Römischen Garten bringen. Dort, mit Blick auf den Fluss, erinnert sie sich: an ihre Kindheit, den Krieg, ihre Liebhaber und an das, was sie über die einstige Gärtnerin dieses Parks weiß, Else, die große Liebe ihrer Mutter.
Die Erinnerungen halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin. Luzie hat sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet und übernachtet nun allein in einer Hütte an der Elbe. Während sie Margrit, deren Mitbewohner und sich selbst im Keller der Seniorenresidenz tätowiert, versucht sie, Stich für Stich, ihre Kraft und ihr Leben zurückzugewinnen.
Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld.
Um nicht vom Strom der eigenen Erinnerungen fortgerissen zu werden, müssen sich die drei auf sich selbst besinnen. Und aufeinander einlassen.
Besprechung vom 29.03.2025
Die Schreie der Bussarde, dünn und scharf wie Reue
Dreimal Leben, eingeschrieben in Leib und Landschaft: Katharina Hagenas neuer Roman "Flusslinien"
Margrit lebt in ihrer eigenen kleinen Wohnung in einer komfortablen Seniorenresidenz in Hamburg. Sie ist einhundertzwei Jahre alt, und sie ist, bis auf erwartbare Schwächen wie das Hören, Sehen und Gehen ohne Rollator, noch guter Verfassung. Ihre Erinnerungen, die aus den Tiefen der Vergangenheit auftauchen, bilden einen Hauptstrom der trizentrischen Erzählung. Margrit verbringt ihre dahinfließenden Tage am liebsten im "Römischen Garten", dem nach Art des Jugendstils angelegten öffentlichen Park in Hamburg-Blankenese mit Blick auf die Elbe.
Die Absicht des Romans liegt schon im Titel "Flusslinien". Ober- und unterirdische Verflechtungen gibt es da in der Ober- und Unterwelt, der realen wie der mythischen, Elbe und Styx. Ähnlich kennt die Flora Rhizome, Sprossachsen unter der Erde, die die Pflanzen miteinander verbinden, unsichtbar und wirkmächtig. Katharina Hagena will nach diesen Modellen der Natur ihre genealogische Spurensuche über drei Generationen verquicken. Wobei das Wasser überhaupt das tragende und leitende Element ist. Um den Erzählfluss zu kanalisieren, ist das Buch nach Tagen in einem Frühsommer gegliedert, von "Tag 1" bis "Tag 12", jeweils von einem lyrisch überhauchten Vorspann eingeleitet - "Hoch über dem Dunst kreisen die Bussarde, ihre Schreie dünn und scharf wie die Reue" lautet der letzte Satz von "Tag 1" - , dann gegliedert in einzelne Abschnitte, die den drei Hauptfiguren gelten.
Luzie, Margrits achtzehn Jahre alte Enkelin, bricht die Schule kurz vorm Abitur ab wegen einer traumatischen Erfahrung beim Auslandsaufenthalt in Australien, wo ihr Vater, Margrits Sohn Frieder, mit seiner neuen Familie lebt. Sie widmet sich seither der Kunst des Tätowierens, die sie zuerst am eigenen Körper erprobt, nach zuvor gezeichneten Schablonen: "Das Bild ist die Karte der Unterwelt, ähnlich wie die aus dem Lateinbuch, und sie geht über ihre linke Hüfte und den Bauch." Das Bild ist noch nicht fertig, so wenig wie das ganz ähnliche Ganzkörper-Tattoo, das sich ihre Großmutter im Verlauf des Romans von Luzie auf die welke Haut stechen lässt. Das Motiv der Einschreibung gelebten Lebens auf dem Leib klingt unübersehbar an.
Luzie lernt Arthur kennen, der ihre Großmutter und andere Bewohner des "Heims" im Kleinbus transportiert. Wobei auch er, der einen Zwillingsbruder Theo hat, mit dem gemeinsam er ein Studium der Hydrologie begonnen hatte, dann im Auftrag einer Schweizer Firma tauchte, sein Trauma mitschleppt, was ihn, so ist das symbolisch wohl zu deuten, veranlasst, zum Sondengänger zu werden. Arthur erfindet inzwischen, mit bisher zweifelhaftem Erfolg, künstliche Sprachen, sogenannte "Conlangs", für Fantasyfilme oder Computerspiele: "Sprachen zu konstruieren, ihre Grammatik, ihren Klang und ihr Wesen zu erfinden, ermöglicht ihm, die Grenzen des Ausdrückbaren zu verschieben, und verschafft ihm die Aussicht auf eine tiefere und klarere Verständigung." Ihn treibt die Suche nach einer "frischen Sprache an. Der Gedanke an eine solche Sprache mag auch Katharina Hagena vorgeschwebt haben, um die Seitenarme ihres Erzählstroms zu verknüpfen. Was dann zu sprachspielerischen Erwägungen führt: "Sondengänger. Er mag das Wort. Klingt wie eine Kreuzung aus Doppelgänger und Sonderling. Wahrscheinlich ist er irgendwie beides. Oder ist man kein Doppelgänger mehr, wenn der, den man verdoppelt, nicht mehr da ist? Damit wäre er also eine Kreuzung aus Einzelgänger und Sonderling - die Definition von Schrat. Aber er ist keiner. Glaubt er zumindest. Und selbst wenn." Ja, was dann?
Margrit ihrerseits, die früher "Stimmbildung und Atemübungen" unterrichtete, folgt der mäandernden Rückschau in ihre Vergangenheit. Alles fließt eben, auch der Odem des Lebens. So passt es, dass das kleine Orchester des Seniorenheims die "Stillen Wasser" heißt. Dieses wiederum wird geleitet vom greisen Cornelius Fischer, einst berühmter Dirigent und zudem Langzeit-Lover Margrits, die dort außerdem in Gregor einen grade mal zwanzig Jahre jüngeren Verehrer findet. Was bedeutet Alter schon im rastlosen Fluss der Zeit? In dessen Lauf auch noch Margrits Mutter Johanne, Luzies Urgroßmutter, mitgenommen ist, samt der Historie ihrer Liebesbeziehung zu Else Hoffa. Diese Frau hat es allerdings wirklich gegeben, sie legte im Auftrag der Warburg-Familie den "Römischen Garten" an, ehe sie 1938 wegen der Nationalsozialisten nach England auswanderte. Hagena nimmt sich die Freiheit, Hoffas weitere Lebenslinie auszuspinnen, als einen Nebenfluss gewissermaßen.
Es ist einige Geduld und Ausdauer verlangt, all diesen "Flusslinien" über 390 Seiten zu folgen. Zumal die Autorin ständig, mehr oder weniger offensichtlich, Anspielungen einfließen lässt - von der griechischen Mythologie zur Gartenkunst über die Elben aus Tolkiens Welt zu Science-Fiction-Filmen. Das alles ist getragen von ihrer offensichtlichen Faszination für das Wasser und dessen (Un-)Tiefen. Kein Zweifel besteht an der Sprachlust Katharina Hagenas, auch nicht an ihrer Fähigkeit zum Sprachwitz. Es gibt durchaus gelungene Passagen, vor allem in den Schilderungen der Bewohner des Seniorenheims, in denen sie das Elend des Alterns, Gebrechen und Demenz mit freundlicher Komik zu mildern versteht. Mit der Vorgeschichte von Arthur in seiner Zwillings-Existenz hält sie einen Spannungsbogen aufrecht. Dagegen bleibt die wohlmeinende Introspektion in Luzies Gefühlswelt, Hagena ist Jahrgang 1967, doch etwas zu sehr an der Oberfläche des Erwartbaren.
Als Luzie mit Erlaubnis einer neuen Heimleiterin in der Seniorenresidenz tatsächlich ein Pop-up-Tätowierstudio eröffnen darf, weil die Fußpflegerin dort im Souterrain aufgegeben hat, in das natürlich dann auch Wasser eindringt, sieht es so aus, dass alles zusammenfließt. Das beinah gesamte Personal des Romans findet sich mit dem Vorsatz zum Stechen von Bildern auf der Haut ein, die zuvor in den Windungen der einzelnen Viten aufgezeichnet wurden. Alles in diesem Roman ist mit Bedeutung aufgeladen, kein Mensch, keine Pflanze, kein Tier steht nur für sich. Unausgesprochenes, Verdrängtes, Verworfenes und Abgespaltenes wollen in die Sprache, Liebe und Liebesverrat, Krieg und trügerischer Frieden, Lebenswille und Todesnähe. Alles hängt mit allem zusammen. Genau das will Katharina Hagena. Es ist schade, dass dieses komplex komponierte Konstrukt doch zu sehr auf gleichsam schwankem Boden steht, ganz wie die Behausungen von Luzie und Arthur auf Stelzen im umspülten Grund der Ufernähe. Und ach, schwankende Rohre im unruhigen Strom der Zeit sind die Menschen. ROSE-MARIA GROPP
Katharina Hagena:
"Flusslinien". Roman.
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2025.
389 S., geb.
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