Seit Jims ungeklärtem Tod hat Bee keinen ihrer Freunde mehr gesprochen. Als sich die fünf ein Jahr später in einem noblen Wochenendhaus an der Küste wiedertreffen, entgehen sie nachts nur knapp einem Autounfall. Unter Schock und vom Regen durchnässt kehren sie ins Haus zurück. Doch dann klopft ein geheimnisvoller Unbekannter an die Tür und eröffnet ihnen das Unfassbare: Der Unfall ist wirklich passiert und es gibt nur einen Überlebenden. Die Freunde sind in einer Zeitschleife zwischen Tod und Leben gefangen, in der sie dieselben elf Stunden immer wieder durchlaufen - bis sie sich geeinigt haben, wer von ihnen überlebt. Der Schlüssel zur Entscheidung scheint Jims Tod zu sein - in ihrer Verzweiflung beginnen die Freunde nachzuforschen, was wirklich mit ihm passiert ist, in jener Nacht, in der er in den Steinbruch stürzte. Und langsam wird klar, dass sie alle etwas zu verbergen haben . . .
Besprechung vom 23.04.2019
Wer einmal in der Zwischenhölle steckt
Hör auf, dich wie ein verdammtes Klischee zu benehmen: Marisha Pessls neuer Roman "Niemalswelt" lotet die etablierten Grenzen der Jugendliteratur aus und sprengt sie dann mit einem Lächeln
In Marisha Pessls erstem, spektakulär erfolgreichen Roman "Die alltägliche Physik des Unglücks" wird die siebzehnjährige Musterschülerin Blue van Meer unerwartet Teil einer exklusiven Privatschulclique, deren charismatischstes Mitglied (Hannah, Blues liebste Lehrerin) auf eine so unzureichend als Selbstmord zu identifizierende Weise ums Leben kommt, dass sich das Mädchen dazu veranlasst sieht, ein Jahr später, inzwischen als Studentin, detektivische Untersuchungen anzustellen. In Pessls jüngstem, kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman "Niemalswelt" wird die siebzehnjährige Musterschülerin Beatrice Hartley unerwartet Teil einer exklusiven Privatschulclique, deren charismatischstes Mitglied (Jim, Beatrices erster Freund) auf eine so unzureichend als Selbstmord zu identifizierende Weise ums Leben kommt, dass sich das Mädchen dazu veranlasst sieht, ein Jahr später, inzwischen als Studentin, detektivische Untersuchungen anzustellen. In beiden Werken reden Teenager wie Fünfunddreißigjährige, sterben Nebenfiguren handlungstreibend in Autounfällen, betätigen sich Mütter als Hobby-Lepidopterologen. Umso deutlicher wird das, was auf den ersten Blick so aussieht wie der wesentliche Unterschied: "Die alltägliche Physik" war eines der meistdiskutierten Bücher des Jahres 2006 und verhalf der Autorin zum zweifelhaften Status als neues Wunderkind der amerikanischen Literatur; den Klappentext schrieb Jonathan Franzen. "Niemalswelt" dagegen ist: ein Jugendbuch.
Wenn dies auch noch nie nicht klang wie eine Beleidigung, so war es schon immer eine besonders vage. Nachdem die Adoleszenz im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Mal als eigener psychologischer Zustand zwischen Kindheit und Erwachsenenalter beschrieben worden war, als turbulenter Testlauf für Identitäten und Verhaltensweisen, begannen Schriftsteller allmählich, Bücher explizit an Jugendliche zu richten, richteten sie in Wahrheit aber eher an deren Eltern, an ihre Hoffnungen, Ängste und nostalgischen Erinnerungen. Die Wirklichkeit sehe anders aus, als die Liebes- und Pferderomane, aber auch die Gewaltfiktionen der Sechzigerjahre es ihren Lesern weiszumachen versuchten, insistierte die neunzehnjährige Susan Hinton 1967 in einem "New York Times"-Kommentar mit dem angemessen neunmalklugen Titel "Teenagers Are For Real" - "real", womit sie meinte: "fast unbeschreiblich widersprüchlich", abgebrüht und dünnhäutig, desillusioniert und idealistisch, unheimlich brutal und unheimlich gelangweilt.
Hintons Sorge über den Zustand der Jugendliteratur hat sich als ebenso zeitlos erwiesen wie die Unklarheit darüber, was damit überhaupt gemeint ist. Viele Romane, die heute als Jugendbücher vermarktet werden, haben so viele erwachsene wie jugendliche Leser - allesamt bereit, so ein beliebter Vorwurf, für eine packende Geschichte all das zu verscherbeln, was Literatur normalerweise wertvoll macht: bewusstseinserweiternde Vielstimmigkeit für moralische und stilistische Eindeutigkeit, existentielle Verunsicherung für die ultimative Befriedigung großer Gefühle.
Im kalten Licht der ernsten Erwachsenenliteratur betrachtet, kann "Niemalswelt" tatsächlich erscheinen wie "Die alltägliche Physik" light. Mit dreihundertachtzig statt sechshundert Seiten gibt es weniger davon, zudem auch weniger von dem, was Pessls Debüt damals so gar nicht alltäglich machte, die unerbittliche Entschlossenheit ihrer Erzählerin nämlich, die Welt bis zur Farbe der Fussel auf den Wolljacken ihrer Mitmenschen zu beschreiben, in Bildern, die so überschwänglich waren, dass sie beinahe als Spezialeffekte durchgehen konnten. Es gab kaum einen Satz in diesem Buch, den die Autorin nicht in eine Art schriftstellerische Luftpolsterfolie gewickelt hatte, die beim Auspacken nicht zerpoppte, sondern explodierte: Blues Lehrer hatten die "freundlichen Gesichter von Mäusen" und Mitschüler die "Persönlichkeit von Reis"; das Haar einer Frau war nicht orange, wenn es fantafarben sein konnte. Es genügte nicht, ihre melodramatische Schuldirektorin mit Evita zu vergleichen, wenn es möglich war, das Bild in eine paragraphenlange Erläuterung ausufern zu lassen, in dem die Vororte von Buenos Aires genauso vorkamen wie der nackte Tangotänzer Agustín Magaldi und Kleiderschränke voller Dior.
Es ist, mit anderen Worten, unwahrscheinlich, dass ein brillantes Mädchen wie Blue van Meer je etwas mit einem Buch wie "Niemalswelt" hätte zu tun haben wollen, in dem Sätze vorkommen wie dieser, über Jim: "Er war schön wie ein Held aus dem achtzehnten Jahrhundert, der auf seinem Pferd durchs Moor galoppiert: fast eins neuzig groß, honigbraune Augen, wildes schwarzes Haar, schiefes Lächeln. Er war unglaublich lebendig."
Aber vielleicht war ja genau das ihr Problem oder zumindest ihre einzige Bildungslücke. Für einen Roman, der so gut darin war, die operettenhaften Höhen und Tiefen der Pubertät in Sprache zu fassen wie "Die alltägliche Physik", schien seine Heldin sich wenig für ihr eigenes Erwachsenwerden zu interessieren, schien es vor allem als erweiterte Metapher zu verstehen für andere, vermeintlich universellere Zwischenzustände (Wahrheit und Lüge, Theorie und Praxis, Realität und Phantasie). In "Niemalswelt" gilt dem Erwachsenwerden nun unsere ungeteilte Aufmerksamkeit - was ist jugendlicher, und jugendbuchiger, als die unerschrockene Verkündung der eigenen Wichtigkeit? - und zeigt sich als Mutter aller Grauzonen, selbst überwältigend und erweiterte Metaphern inspirierend genug, um einen ganzen Roman darüber zu schreiben.
Beatrice hat andere Sorgen als gelegentlich zu klingen wie die Parodie einer Ich-Erzählerin in einem Jugendbuch, steckt sie doch buchstäblich fest in der titelgebenden Niemalswelt, einem vorhölleartigen Schwebezustand, in den sie und ihre Freunde durch einen Autounfall gelangen, "einen der drei nachvollziehbarsten Gründe für den Tod eines Heranwachsenden". (Die anderen beiden, so ihre wenig subtile Anspielung auf geläufige Jugendbuchtragödien, sind Krebs und Selbstmord.) Nun bleibt ihnen nichts anderes übrig, als denselben Tag wieder und wieder zu erleben, bis sie sich auf die Person geeinigt haben, die als Einzige überleben und somit weiter älter werden darf.
Während solche Szenarien erwachsenen Protagonisten gewöhnlich als Aufruf zur Selbstverbesserung dienen - "Und täglich grüßt das Murmeltier" handelt von einem solipsistischen, selbstsüchtigen Dreckskerl -, haben wir es hier mit Menschen zu tun, deren solipsistische, selbstsüchtige Dreckskerlhaftigkeit eher als akutes Symptom zu verstehen ist, noch nicht als ausgewachsenes Laster. Als Antwort auf die Schwellenräume, in denen sie sich wiederfinden - ihr Gefangensein zwischen Leben und Tod, Kindheit und Erwachsensein -, stürzen sich die Freunde also in eine Reihe von Lebensentwürfen, die sie anprobieren wie neue, möglicherweise lebensrettende Jeans. Auf Egoismus (erschlichene Yachturlaube) folgt Altruismus (Besuche im Seniorenheim), dann eine Kombination aus beidem (Kipling begleitet eine Frau zur Chemotherapie, beginnt aber auch eine Affäre mit ihr). Sie driften auseinander und aufeinander zu, oszillieren, den Unterschied zwischen "ich" und "wir" verhandelnd, zwischen Verzweiflung (Selbstmord, erfolglos) und ultimativer Langeweile (die Lektüre des gesamten Internets, erfolgreich).
Dann folgt ein Pess'lscher Dreh par excellence, weniger aufdringlich metaliterarisch als die halsbrecherischen Wendungen in "Die alltägliche Physik" und gleichzeitig extravaganter: Um der ewigen Wiederholschleife zu entkommen, müssen die Freunde weder einen tadellosen Charakter formen noch ihren Platz in der Gesellschaft finden. Sie müssen einfach nur aufhören, um es in den Worten eines generisch entnervten Jugendbuchprotagonisten zu sagen, sich zu benehmen wie ein verdammtes Klischee.
Genauso tief wie in der Niemalswelt steckt die Gruppe nämlich fest in einer Reihe klassischer Jugendbuch-Topoi, Handlungsverläufe und Figurenkonstellationen, die Pessl abträgt wie Gesteinsschichten. Das, was übrig bleibt, ist das Gegenteil von befriedigend - ein fabelhaftes Jugendbuch, das die Grenzen seines Genres genauso erfinderisch in Frage stellt wie es die tot-lebendigen Kindererwachsenen tun, von denen es erzählt. Die erste große Liebe ist problematischer, vor allem aber kleiner, als sie zunächst erscheint, und Jims Tod, das zentrale Geheimnis des Romans, ist eine Verkettung von unglücklichen Zufällen und ziemlich plausiblen Entscheidungen. Auch die Charaktere erweisen sich als feiger, normaler und komplizierter als gedacht: Cannon ist weniger ein selbstloser Alleskönner als ein rasender Workaholic; die furchterregend-furchtlose Schönheit Whitley entpuppt sich als talentierte Kleinkriminelle mit Mutterkomplex und Martha, das semi-autistische Mathegenie, als aufopfernde Freundin.
Und dann ist da natürlich noch Jim, dessen romantisch-galoppierende Heldenhaftigkeit Pessl am allerwenigsten auf sich beruhen lässt, die sie ihre Leser - sie sind erwachsen genug für die Wahrheit - vielmehr von so vielen Seiten betrachten lässt, bis honigbraune Augen und schiefes Lächeln zurückgefunden haben zu ihrem rechtmäßigen Besitzer: einem narzisstischen kleinen Lügner, einem größenwahnsinnigen, liebenswerten Träumer, der aus Versagensangst die Menschen enttäuscht, die ihm eigentlich am wichtigsten sind - einem siebzehnjährigen Jungen also, for real.
KATHARINA LASZLO
Marisha Pessl: "Niemalswelt". Roman.
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Carlsen Verlag, Hamburg 2019. 382 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 14 J.
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