Besprechung vom 18.02.2025
Das Zucken um den Mundwinkel
Sondierung des Bösen als Spielform von Langeweile: Michael Köhlmeiers Roman "Die Verdorbenen"
Kompakte Titel wie dieser sind bei dem gern mit verspielten Motiven winkenden Michael Köhlmeier eher selten. Es ist, als ginge es dem Autor der kleineren Formen diesmal ums untergründig Volle und Ganze. Denn aus dem Vollklang seines neuen Buchs glaubt man das Echo auch anderer Romantitel mitzuhören, von "Die Entwurzelten" des Fin-de-Siècle-Autors Maurice Barrès über Hermann Brochs "Die Schuldlosen" bis zu Michael Maars "Die Betrogenen". Wie durch einen dumpfen Gongschlag wird im substantivierten Adjektiv "Die Verlorenen" die Grundverfassung einer Generation, einer Situation, einer Epoche angeschlagen. Konkret handelt es sich hier um die existenzielle Sozialisierung eines Studenten während der Siebzigerjahre in der deutschen Universitätsstadt Marburg an der Lahn. Die Figur trägt, wie des Öfteren bei Köhlmeier, vordergründig Züge des Autors selbst.
Mit allerlei kruden Ideen aus Nietzsches "Zarathustra", Luis Buñuels "Gespenst der Freiheit" und vom Föhn seiner Vorarlberger Heimat durchwirbelten Phantasien kam Johann zum Germanistik- und Politologiestudium nach Marburg. Er gehörte zur ersten Nachkriegsgeneration, die sich an keinen harten Realitäten zu reiben hatte und an der umgekehrt von der Realität um sie her so gut wie nichts haften blieb. Das Leben spielte sich für sie in einem Treibhaus der Unverbindlichkeit ab. Er selbst sah sich als einen Literaturtouristen: frei, offen für alles, unschlüssig in fast allem. Selbst auf die Frage seines Vaters beim Biertrinken zu Hause auf der Terrasse, ob er "jemand habe" im Leben, antwortete er mit einer phantasierten Wahrheit und sagte "Ja", denn es hätte ja tatsächlich so sein können, wenn er zum Vorschlag Christianes in Marburg, bei ihm einzuziehen, nicht Nein gesagt hätte.
Die manchmal in ihm aufsteigende Ahnung, dass seine Phantasien sich mit der Zeit in nichts auflösen könnten, quittiert er trocken mit dem Gedanken, dann begänne endlich die Realität, mit ihm als Erwachsenem mittendrin. Wie aus Phantasie Ideologie, Weltanschauung, Rechthaberei werden konnte, bekam er aus den debattenverzettelten Lehrveranstaltungen und Kneipenabenden in Marburg reichlich mit. Das wollte er nicht. Seine Konsequenz daraus lautete: "Wer frei von Illusion und Ideologie war, frei von Hingabe und Melodram, frei von Traum und Liebe, für den gab es nichts zu sublimieren. Der kriegte das Echte." Wie viel Unheil er damit unschuldig anrichten konnte, nicht nur gegenüber Christiane, sondern auch gegenüber deren ehemaligem Lebenspartner Tommi, erkennt Johann erst sehr viel später.
Doch bilden diese paar Studiensemester nur den narrativen Rahmen des Romans. Es handelt sich hier nicht um ein Generations- oder Epochenporträt. Erzählt wird zwar in der Ich-Form aus einer nicht näher präzisierten Gegenwart, Jahrzehnte danach. Das geschieht aber eher wie eine stratosphärische Fernbeobachtung. "Ich kann mich aus der Entfernung beobachten, als wäre ich ein anderer", gesteht der Erzähler. Das Erzählte schwebt schwere- und haltlos wie in einer Zeitwolke, praktisch ohne Bezug auf eine vorausgegangene Kindheit oder auf eine nachträglich erreichte Reife. Der Erzähler mischt sich nicht kommentierend ins Geschehene ein. Die praktisch einzige auftauchende Kindheitserinnerung ist die Frage des Vaters an den seinerzeit Sechsjährigen, was er auf alle Fälle wenigstens einmal in seinem Leben tun wolle, und die Antwort darauf, die der Kleine sofort wusste, zu geben aber nie Gelegenheit hatte, war: einmal im Leben einen Mann töten.
Die "Verdorbenen" in diesem Buch sind Leute, die wie der Germanistikstudent Johann keine Begriffe für Schuld und Unschuld, fürs Böse oder für Scham hatten. Stets stand das kritische Bewusstsein davor. Man sprach miteinander wie in Eigenzitaten. Wenn im Gespräch mit dem Vater während des Semesterurlaubs das Gefühl von Vertrautheit aufkam, spürte Johann bei sich ein höhnisches Zucken im Mundwinkel. Und bei Christianes Geständnis, dass sie ihn liebe, dreht er sich ab aus Furcht, sie könnte das höhnische Zerren um den Mund bemerken.
Den Mord begeht er dann tatsächlich, sogar zweimal, zuerst aus plausibel begründeter Notwehr, danach indirekt über Christiane. "Ich liebe dich", sagt er zu ihr, als wollte er ausprobieren, wie Sätze aus Filmen in der Wirklichkeit klingen, und weinen tut er, weil man das seiner Ansicht nach in gewissen Situationen so tut. Dennoch ist er kein falscher, kein eigentlich böser Mensch. "Was bin ich für einer, dass ich, ohne es zu wollen, solche Macht über Menschen ausübe?", fragt er sich mit wohl aufrichtiger Bange. Statt von diabolischen Launen ist er eher von Langeweile getrieben. Selbst Ekel und Hass empfindet er so, als wären sie "längst nicht mehr im Dienst". Und wenn in der Vernehmungshaft ihm schließlich einer offen seine Wahrheit sagt, dass er nämlich ein von Grund auf verdorbener und dennoch durch und durch unschuldiger Mensch sei, das Widerlichste, wozu einer es bringen könne, stimmt Johann ihm beinah erleichtert zu, um in seine unverbindliche Freiheit entlassen zu werden.
Köhlmeier zerlegt dieses moralische Unvermögen souverän in ein Mosaik mehr angerissener als abgerundeter Szenenskizzen, wie nur er das versteht. Das große Thema schillert in allen Grautönen unheilvoller Schuldlosigkeit, der Gesamtklang schwingt in den feinsten Obertönen. Manche Anspielungen bleiben dabei etwas rätselhaft. Die Spannung zwischen Erzähltem und distanziertem Erzählen wird bis fast zuletzt durchgehalten, bevor der Erzähler sich doch noch verplaudert. Das Böse habe Lust nur auf sich selbst, spekuliert er und widerlegt damit den Plural des Romantitels. Wir jedenfalls haben im Buch nur einen genuin "Verdorbenen" gezählt. JOSEPH HANIMANN
Michael Köhlmeier: "Die Verdorbenen". Roman.
Hanser Verlag,
München 2025.
160 S., geb.
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