Besprechung vom 10.11.2020
Die bayerischen Buddenbrooks
Vom Theaterstück zum Roman: In Christoph Nußbaumeders erzählerischem Debüt "Die Unverhofften" wird jede Generation auf ihre eigene Weise desillusioniert
Episch, tragisch und turbulent: "Die Unverhofften" fällt einigermaßen unverhofft vom Blätterbaum des Bücherherbstes. Denn Christoph Nußbaumeder hat es mit seiner Lebenschronik aus dem Bayerischen Wald nicht mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Unverständlich! - wird man doch schon auf den ersten Seiten tief hineingezogen in eine Dorfgesellschaft, die von den Gründerjahren des Deutschen Reichs über die Gründerjahre der Bundesrepublik bis in unsere Verhältnisse hinein beschrieben wird.
Maria Raffeiner ist die erste von vielen Frauenfiguren, die der Autor mit sicherer Hand auf knapp siebenhundert Seiten entwirft. Sie ist die Tochter eines Arbeiters, der in der örtlichen Glashütte schuftet. Ein Kämpfer, der sich für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz in der Arbeiterbewegung engagiert. Doch dann kommt es zu einem tödlichen Arbeitsunfall. Er bleibt unaufgeklärt. An die Härten der Hierarchien gewöhnt, wächst Maria nun im Schatten der Glashütte auf. Nahe der tschechoslowakischen Grenze im Dorf Eisenstein. Die meisten Dörfler sind in der Fabrik oder auf dem Gut der Familie Hufnagel beschäftigt. Auch Maria.
Doch die junge Frau träumt nicht von einer Zukunft in Eisenstein. Sie träumt von Amerika. Dorthin hat es einen Cousin verschlagen. Ihm will sie nachfolgen. Was so leicht nicht ist. Denn Siegmund Hufnagel macht ihr den Hof. Als Maria sich weigert, ihre Amerika-Pläne für ihn aufzugeben, droht Hufnagel seine Angestellte wegen Diebstahls anzuzeigen: "Es war eine Art Gewohnheitsrecht, das man den Dienstboten zugestand. Meist waren es Überreste vom Abendessen, zu schade für die Tiere, zu gut für den Abfall, eigentlich viel zu billig, um ihr daraus einen Strick zu drehen. Hätte Maria es nicht mit dieser lähmenden Angst zu tun bekommen und wäre sie auch nur eine Spur überlegener geblieben, hätte sie alles abstreiten können." Nachdem Siegmund Maria erst bezichtigt, dann vergewaltigt hat, wird sie wieder zum Pfand fremder Interessen. Die Arbeiter, an die sie sich wendet, sehen von einer Anzeige ab. Bedingung: Hufnagel soll einen Tarifvertrag unterschreiben.
Christoph Nußbaumeder ist zwar neu im Metier der Romanciers. Als versierter Stückeschreiber - auch "Die Unverhofften" sind die Weiterentwicklung eines Theaterstücks über das Dorf Eisenstein - gelingt es ihm aber, seine Geschichte trotz ihrer Länge aus einer Urszene heraus zu entwickeln: Mit Marias monströser Rache an ihrem Dienstherrn Siegmund Hufnagel und der anschließenden Flucht setzt die Familiensaga "Die Unverhofften" ein.
Zweiter Aufzug: Eisenstein befindet sich im Zustand seiner Entnazifizierung durch die Amerikaner. Der Krieg ist vorbei. Hufnagels haben inzwischen auf Holz umgestellt. Siegmunds Söhne teilen sich den Betrieb. Der eine war ein begeisterter Parteigänger, der andere ein skeptischer Kriegsveteran mit Holzbein. Mitten in den Befreiungswirren gelangt eine junge Frau auf das Gut der Brüder. Wie sich später herausstellen wird, handelt es sich um Marias Tochter, die aus Böhmen kommend Schutz vor den Russen sucht.
Dass Erna ein Kind erwartet, verrät sie ihrem Gutsherrn freilich nicht. Denn sie fürchtet, weggeschickt zu werden. Aus Schwäche oder Berechnung beginnt sie eine Affäre mit Joseph Hufnagel und redet ihm die Vaterschaft ein. Natürlich bleibt alles geheim, Joseph ist verheiratet. Seine Frau wird in Kürze selbst ein Kind zur Welt bringen. Ärger kann Joseph jetzt also nicht gebrauchen: ",Gut', sagte Josef und schlug ein, ,bis zur Niederkunft kannst bleiben, für die darauffolgende Zeit auch. Für danach lass ich mir was einfallen.'"
Was Joseph dann einfällt, ist Marias Vermählung mit seinem Bruder Vinzenz. Ein Arrangement, das funktioniert. Und in dem der kleine Georg zu einem entschlossenen jungen Mann heranreift. Seit an Seit mit Josephs Töchterchen Gerlinde. Eine tragische Liebesgeschichte nimmt Jahre später ihren Lauf, denn ein Lügengespinst um Herkunft und Abstammung wird fortan das Schicksal bestimmen: Georg glaubt, der Sohn eines Kriegsgefallenen zu sein. Joseph meint, Georgs Vater zu sein. Auch Gerlinde wird das glauben, weswegen sie den ahnungslosen Georg jäh verlässt. Nur Erna kennt die Wahrheit - und wird sie fatalerweise mit ins Grab nehmen. Immerhin hinterlässt sie einen Brief.
Inzwischen hat der dritte Teil des Romans begonnen. Beschrieben wird die Beziehung zwischen Georg und Gerlinde im Geiste der Sixties: Studentenheimpartys, Kommunardenpalaver, Frauenemanzipation und Zukunftspläne! All das wird mit großer Sympathie erzählt. Und als es vorbei ist, leidet der Leser mit auf jeder Seite: "Vielleicht", mutmaßt Gerlinde, "litt sie an einer Art Geisteskrankheit, an einer Form von Hybris, die sie gegen die überlebensnotwendige Vermischung der menschlichen Gene auf selbstzerstörerische Weise rebellieren ließ." Erst viele Jahrzehnte später können die Missverständnisse ausgeräumt werden. Für Gerlinde und Georg ist es da längst zu spät.
Ungerührt vollzieht sich indes das Leben: Familien werden gegründet, Kinder geboren, Ehen geschieden, Firmen gegründet. Das alles bei gebrochenen Herzen. Dort, wo Gerlinde sich in die Bindungslosigkeit flüchtet, reift Georg zum Patriarchen. Er wird vom Holz-Unternehmer zum Immobilienmilliardär. Pikanterweise heiratet er Gerlindes ahnungslose Schwester. Naturgemäß kann das nicht glücklich enden. Tut es auch nicht.
Es ist erstaunlich, wie Christoph Nußbaumeder in seinem Romandebüt nicht nur die Stimmung der Jahrhundertwende herausarbeitet, sondern auch den materialistischen Geist der achtziger Jahre. Die hemdsärmelige Nachkriegszeit ist vorbei. Der Markt geht auf Deindustrialisierung. Gerlinde verkörpert mit ihrer Lebensführung jenseits aller Illusionen den skeptischen Teil der Gesellschaft. Sie wird Mitglied einer Partei namens "Die Grünen". Die Enkelgeneration professionalisiert ihren Protest später im Klimaschutz. Ähnlich wie in Thomas Manns "Buddenbrooks" wird bei Christoph Nußbaumeder jede Generation auf ihre eigene Weise desillusioniert. Dennoch ist das ohne Pathos geschrieben. Dem Autor geht seine Chronik der deutschen Lebensverhältnisse so leicht von der Hand, dass man nur staunen kann, bisher nichts von ihm gehört zu haben. Denn neben dem Schicksal reserviert der Dramatiker auch immer noch ein Plätzchen für Fortuna.
"Die Unverhofften" lautet die letzte Kapitelüberschrift des Romans. Nußbaumeder kehrt darin wieder an den Anfang seiner Erzählung zurück. Zu Maria, die nach ihrer Brandstiftung nach Amerika fliehen will. Sie kommt nicht sonderlich weit. Genauer gesagt nur in den Böhmischen Wald, wo schließlich Georgs Mutter das Licht der Welt erblickt. Auch hier ist das Schicksal doppelt konnotiert: Ein Sturz macht Maria reiseunfähig. Eine Zufallsbegegnung ermöglicht ihre Rettung. Und später sogar die große Liebe.
Ein bisschen Unglaublichkeitseffekt hat dieses Buch also auch, denn Theaterschminke klebt an Nußbaumeders Händen. Mit dem Gespür des Dramatikers, der große Zeitsprünge in symbolträchtigen Szenen und zwischenmenschlichen Begegnungen pointieren kann, hat er ein süddeutsches Familienepos geschrieben, das eine große literarische Überraschung ist.
KATHARINA TEUTSCH
Christoph Nußbaumeder: "Die Unverhofften". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 672 S., geb., 25,- [Euro].
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