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Besprechung vom 08.04.2025
Eine Zeitenwende dauert 20 Jahre
Sönke Neitzel legt eine Geschichte der Bundeswehr vor - und spart nicht mit Kritik.
Nachdem am 24. Februar 2022 die russische Armee in die Ukraine eingefallen war, schrieb der Inspekteur des deutschen Heeres, General Alfons Mais, auf dem sozialen Netzwerk Linked In: "Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr [. . .] steht mehr oder weniger blank da." Dass ein solches Szenario im Westen schon 1949 befürchtet wurde, zeigt der Historiker Sönke Neitzel in seinem neuen Buch "Die Bundeswehr: Von der Wiederbewaffnung zur Zeitenwende." Die Verteidigung gegen die zahlenmäßig überlegenen Streitkräfte der Sowjetunion schien fast unmöglich. "Eine Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit war unabdingbar, um im Ernstfall nicht vor ein fait accompli gestellt zu werden", schreibt Neitzel. Ein Ausdruck dieser Stärkung waren das Bemühen um einen Verteidigungsbeitrag der jungen Bundesrepublik und die daraus resultierende Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955, vor nunmehr siebzig Jahren.
Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte den Vereinigten Staaten versprochen, binnen drei Jahren eine Armee mit einer halben Million Soldaten aufzubauen. Gleichzeitig sollte jedoch sichergestellt werden, dass die neuen Streitkräfte kein Eigenleben entwickeln, ein Aufleben des Militarismus sollte verhindert werden. Laut Neitzel wurde deshalb das Zivile konsequent dem Militärischen übergeordnet: Der Verteidigungsminister ist ein Zivilist, der höchste Soldat (der Generalinspekteur) hat keine Kommandogewalt, und das Parlament hat sich weitgehende Vorrechte gesichert.
Das habe sich auch in der Zielsetzung ausgedrückt: "Anders als in früheren Epochen deutscher Militärgeschichte sollte der Krieg nicht mehr der Ort der Bewährung sein. Im nuklearen Zeitalter galt es, diesen unbedingt zu vermeiden, indem man durch die eigene Einsatzbereitschaft den Gegner abschreckte." Diesen politischen Auftrag im Kalten Krieg "haben die westdeutschen Streitkräfte [...] zweifellos erfüllt", schreibt Neitzel. Die Bundeswehr wurde dabei nicht zu einem "Staat im Staat", sondern war "eine der Republik loyal ergebene Institution".
Nach 1990 ging es dann vor allem um "Out of Area"-Einsätze. Von der Landesverteidigung verabschiedete man sich stillschweigend spätestens im Jahr 2001. Deswegen und wegen massiver finanzieller Kürzungen büßte die Armee Kernkompetenzen ein. Dazu kam politisches Zögern, besonders in den Jugoslawien-Kriegen. "Die Vereinigten Staaten betrachteten die Region zunächst als Verantwortungsgebiet der Europäer - die aber taten sich ohne die Führungsmacht USA schwer, entschlossen zu reagieren", schreibt Neitzel. Die Einsätze in Somalia und im Kosovo standen vor allem im Zeichen ziviler Hilfe, "das Brunnenbohren wurde zum geflügelten Wort". Der bislang größte und längste Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan war für Neitzel eine "Mission Impossible". Die politische Hoffnung, dass sich im Schatten militärischer Sicherheit ein demokratisches afghanisches Staatswesen entwickeln würde, erfüllten sich nicht. Allerdings sei der Einsatz für die Streitkräfte wichtig gewesen, denn zum ersten Mal seien deutsche Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in eine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt gewesen. "In gewisser Weise ist die Bundeswehr am Hindukusch erwachsen geworden", urteilt Neitzel. 2014 folgte der Schock der russischen Besetzung der Krim. Unter Kanzlerin Angela Merkel seien nötige Reformen jedoch nicht angestoßen worden, kritisiert Neitzel. Auch die "Zeitenwende" von Kanzler Olaf Scholz sei zu zögerlich gewesen. Es habe keine tiefen Einschnitte in die Ausgaben zugunsten der Aufrüstung gegeben, und auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht, wenn auch in abgespeckter Form, sei verpasst worden.
Neitzel verbindet seinen historischen Überblick mit einer das ganze Buch durchziehenden Forderung: Die Bundeswehr müsse wieder lernen, zu kämpfen. Ihm geht es um die Herausstellung des Besonderen des Soldatenberufs: Im Ernstfall muss er willens und in der Lage sein, andere Menschen zu töten. Das fängt für Neitzel, der Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam lehrt, schon beim Traditionsbegriff an. Es gebe ein Dilemma zwischen dem Anspruch, die Bundeswehr solle vor allem eine politische Tradition haben, und der Realität, dass es in der Truppe "gewachsene handwerkliche Militärtraditionen gibt, die in die vordemokratische Zeit zurückreichen und trotzdem für die Identität etlicher Soldaten von großer Bedeutung sind." Mit der neuen Fokussierung auf die Landesverteidigung seit 2022 sei die Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, noch virulenter: "Wie sehen denn nun die passenden Vorbilder für einen Panzerkommandanten oder einen Grenadier aus, dessen Aufgabe im Ernstfall ist, in Litauen für das westliche Bündnis zu kämpfen, zu töten und notfalls zu sterben? Das politische Bekenntnis zum Grundgesetz reicht dazu wohl kaum aus."
In diese Kategorie fällt auch seine deutliche Kritik an der Generalität. Während Neitzels Wortwahl im Buch noch als zurückhaltend einzustufen ist, hat er diesen Punkt in einem Interview im vergangenen Jahr deutlich gemacht. Die militärische Führung der Bundeswehr sei zu "selbstverachtender Loyalität" erzogen worden. Er fordert mehr Mut von den Generalen. Wenn deren Forderungen nicht erfüllt würden, müssten sie das zwar als Primat der Politik akzeptieren, aber "es ist eure verdammte Pflicht, die Öffentlichkeit über die Folgen dieser Beschlüsse zu informieren. [...] Das geschieht leider nicht", sagte er der "Welt am Sonntag".
Die Bundeswehr sieht Neitzel nicht in der Lage, das Land zu verteidigen. Zu lange sei gespart und seien notwendige Reformen aufgeschoben worden, er attestiert gar eine Reformunfähigkeit: "Aus sich selbst heraus ist die Bundeswehr daher nicht mehr reformfähig." Es müsse endlich mehr und entschlossener in die Bundeswehr investiert werden. Die Geschichte zeige, dass der Aufbau und der Umbau der Bundeswehr jeweils rund zwanzig Jahre gedauert hätten. "Mit der Krim-Annexion und dem Beginn des Krieges im ukrainischen Donbas 2014 begann die dritte Neugründung der Bundeswehr, und es ist nicht vermessen anzunehmen, dass auch diese wenigstens zwanzig Jahre in Anspruch nehmen wird."
Das vorliegende Büchlein basiert zu großen Teilen auf Neitzels Studie "Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik" und bietet einen guten Überblick über die siebzigjährige Geschichte der Bundeswehr. Doch genauso wie "Deutsche Krieger" wird Neitzels konsequente Argumentation vom militärischen Auftrag her für Widerspruch sorgen. 2020 wurde er gar als "Revisionist" bezeichnet. Während diese Kritik überzogen ist - auch dem Militär Fernstehende sollten anerkennen, dass den deutschen Soldaten zur Erfüllung ihres Auftrags die bestmöglichen Mittel an die Hand gegeben werden sollten -, darf doch zumindest gefragt werden, warum eine kurze Geschichte der Bundeswehr quasi ein politischer Forderungskatalog geworden ist. Ein Autor vom Range Neitzels hätte dafür sicher andere und unter Umständen auch wirkmächtigere publizistische Mittel gefunden. OLIVER KÜHN
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende
C.H. Beck Verlag, München 2025. 128 S.
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