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Besprechung vom 25.03.2025
Was wäre, wenn Russland gewinnt?
Moskaus nächstes Opfer wäre Estland - und keiner würde dem Land beistehen. Carlo Masala entwirft ein gruseliges Szenario, für das es nicht viel Phantasie braucht.
Die Zukunft des Westens ist zwar offen, sieht aber nach den aktuellen Entwicklungen düsterer aus als noch vor wenigen Monaten. Der neue amerikanische Präsident Donald Trump fordert von den Europäern wesentlich vehementer als noch in seiner ersten Amtszeit, für ihre Sicherheit endlich die maßgebliche Verantwortung zu übernehmen. Sein Vizepräsident kündigt auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Europäern quasi die Wertegemeinschaft auf, und der schillerndste Berater des Präsidenten, der Milliardär Elon Musk, befürwortet auf seiner sozialen Plattform X den Rückzug der Vereinigten Staaten aus der NATO.
In Moskau und Peking wird man sich die Augen reiben und das Glück kaum fassen können, dass die Abrissbirne nun nicht von außen an das Haus gelegt werden muss, sondern von innen geschwungen wird. Der wichtigste Prüfstein für die Zukunft des westlichen Bündnisses scheint dabei der Krieg in der Ukraine zu sein. Unter Joe Biden standen die Vereinigten Staaten an der Seite Kiews, waren einer der größten Unterstützer des Landes in seinem Kampf gegen Russland. Mit Trump zog ein neuer Ton ins Weiße Haus ein. Die Unterstützung der Ukraine ist für den amerikanischen Präsidenten alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Diese müsse auch Dankbarkeit zeigen und Gegenleistungen erbringen, fordert er. Wenn die amerikanische Hilfe - militärischer und finanzieller Art - tatsächlich wegbricht, scheint es nur eine Frage der Zeit, wie lange sich die Ukraine der russischen Armee noch entgegenstemmen kann. Russland würde den Krieg wohl gewinnen, es bliebe nur, die Form der Niederlage zu verhandeln.
Was wären die Folgen eines solchen Kriegsendes? Damit hat sich der Politikwissenschaftler Carlo Masala in seinem neuen Buch "Wenn Russland gewinnt" auseinandergesetzt. Masala entwirft ein Szenario, das sich eng an die aktuellen Entwicklungen anlehnt, um diese in eine mögliche Zukunft fortzuschreiben.
Masala geht davon aus, dass Kiew den Krieg verloren hat, "wobei ein russischer Sieg für mich schon dann gegeben ist, wenn Russland das Territorium behalten kann, das es aktuell besetzt hält", wie Masala schreibt. Die Vereinigten Staaten hatten ihre Hilfe zurückgezogen, und den Europäern gelang es nicht, Kiew ausreichend mit Rüstungsgütern zu versorgen. Die Ukraine muss "eine dauerhafte Neutralitätsklausel in ihre Verfassung aufnehmen, die den Beitritt zur NATO ausschließt". In den meisten Partnerländern ist man zwar noch bereit, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, aber eine Aufrüstung der eigenen Länder wird in der Öffentlichkeit größtenteils abgelehnt. Russland könne in absehbarer Zeit keinen Krieg mehr führen und die Stationierung amerikanischer Marschflugkörper in Deutschland sei Abschreckung genug, lauten die Argumente. Den Regierungen sind ihre Beliebtheitswerte wichtiger als die kostspielige Vorbereitung auf eine militärische Auseinandersetzung. Der Kreml verfolgt derweil seine Ziele weiter: die Vergrößerung des eigenen Staatsgebiets - dem Westen gegenüber als "Schutz der Landsleute im Ausland" verbrämt - und die Anerkennung als Supermacht in einer neuen multipolaren Welt. Als Test, wie weit man gehen kann, muss Estland herhalten: Der Kreml besetzt die Stadt Narwa und die Ostseeinsel Hiiumaa.
Estland beantragt die Ausrufung des NATO-Beistandsparagraphen 5, und im Hauptquartier in Brüssel kommen die Staats- und Regierungschefs zusammen, um über eine Reaktion zu beraten. Der amerikanische Präsident macht klar, dass er nicht gewillt ist, etwas zu riskieren. Als Schreckgespenst stellt er den Dritten Weltkrieg in den Raum. Trotz der Gegenrede des deutschen Bundeskanzlers kommt es zu keiner Einigung. Estland wird im Stich gelassen, der russischen Aggression nicht begegnet. In einem Telefonat frohlocken der chinesische und der russische Präsident: Sie bestimmen jetzt die globale Entwicklung.
Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München lehrt, will sich mit seinem Buch ausdrücklich nicht als Prophet betätigen. Vielmehr habe er dieses Szenario entworfen, damit es nicht eintrete. "Szenarien erweitern den Möglichkeitsraum unseres Denkens. Sie wirken intellektueller Bequemlichkeit ebenso entgegen wie zu kurzen politischen Zeithorizonten", schreibt Masala. Dem pflichtet auch Masalas Fachkollege Herfried Münkler bei, der kürzlich in einem Interview sagte, der späteren Entscheidungsfindung helfe das frühzeitige Durchspielen von Szenarien, "was die operative Politik zu wenig tut".
Für Masala sind die Schlussfolgerungen, die aus seinem Gedankenspiel zu ziehen sind, evident. So dürfe der Westen zwar die Existenz von russischen Atomwaffen nicht einfach ignorieren, sich aber von Moskaus "ganz bewusst und taktisch geschickt" eingesetzten Drohungen des Einsatzes solcher Waffen nicht mehr verrückt machen lassen. Außerdem müsse endlich anerkannt werden, dass "der russische Aggressionskrieg mehr als nur ein Krieg zur Vernichtung der Ukraine ist. Er ist in seinem Kern ein Weltordnungskonflikt, bei dem es um die Frage der zukünftigen Struktur des internationalen Systems geht." Das müsse auch der Bevölkerung immer wieder deutlich gemacht werden, um einer Ermüdung vorzubeugen.
Masala fordert die europäischen Staaten auf, die Bedrohung durch Russland ernst zu nehmen. Nur das werde Moskau von einem Konflikt abhalten. Es geht ihm um "die Abschreckung des russischen Militärpotentials und die Eindämmung der machtpolitischen Ambitionen des Kremls". Deshalb müssten die bislang vorgenommenen Rüstungsanstrengungen konsequent weitergeführt und ausgebaut, die beiden größten Fähigkeitslücken - "die mangelhafte Luftverteidigung und die Schwäche im Bereich konventioneller Marschkörper", die bis nach Russland hinein wirken können - geschlossen werden, gerade im Hinblick auf den möglichen Ausfall der USA. Nur wenn Russland überzeugt sei, dass die NATO tatsächlich willens und in der Lage ist, das Bündnisgebiet zu verteidigen, werde es von einem wie in dem Szenario beschriebenen Test der westlichen Entschlossenheit absehen. Letztlich gehe es um die Verteidigung der "Art und Weise, wie wir leben wollen".
Masalas Forderungen werden seit Jahren erhoben, bislang jedoch ohne die notwendigen politischen Folgen. Der Autor hält sich nun mit seinem Buch an den Ausspruch Walter Benjamins "Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg", um die Europäer an dessen Vorläufer zu erinnern: "Willst Du den Frieden, rüste für den Krieg." Nicht dass die NATO-Staaten dereinst zu der Erkenntnis kommen, die Masala dem deutschen Bundeskanzler in seinem Gedankenspiel zuschreibt: "Wenn die NATO nicht reagiert, hat Russland gewonnen." In diesem Sinne ist dem Büchlein weite Verbreitung zu wünschen. Die gut einhundert Seiten könnte jeder Politiker an einem Abend durchlesen. Es wäre gut angelegte Zeit. OLIVER KÜHN
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario
C.H. Beck Verlag, München 2025. 116 S.
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