Als genreyptischer Krimi unbefriedigend - aber mit starker Atmosphäre und interessantem Personal literarisch gelungen.
Vor zwanzig Jahren fiel die Ehefrau des Polizisten Corso Bramard dem Serienmörder "Il Autunnale" zum Opfer. Der Hinterbliebene geriet aus der Spur und musste den Job aufgeben. Seither arbeitet er Teilzeit als Lehrer in Turin, er wohnt auf dem alten, aufgegebenen Bauernhof seiner Eltern und verbringt die schlaflosen Nächte vorzugsweise biwakierend im nahen Gebirge. Die Mordserie kam mit sechs Opfern an ihr Ende. Der Mörder hat seinerzeit mit Briefen an die Polizei auf die Fundorte seiner Opfer hingewiesen. Jetzt kommt wieder ein Schreiben, und Corso nimmt die Jagd auf, inoffiziell, versteht sich, aber unterstützt von seinem ehemaligen Kollegen Arcadipane und dessen Mitarbeiterin, der jungen und rebellischen Isa. Als alter Krimihase habe ich so einiges auszusetzen: Das Ende kommt überraschend, der Täter quasi aus dem Nichts, die zusammenfassende Erklärung, wie alles zusammenhängt, so für die Dooferen unter uns, bleibt aus, die Lösung steht zwischen den Zeilen, ich reime mir zwar das meiste zusammen, aber einige Fragen stehen offen, wo ich mir nicht sicher bin und mir mehr Klarheit wünschen würde. Die Ambivalenz wird aber auch nicht thematisiert, wir müssen als Publikum selbst damit zurechtkommen.Ist das nun eine Schwäche des Buches? Ist es Krimi für sehr Fortgeschrittene? Oder ist es literarisches Programm?Es spricht einiges für die letzte These. Davide Longo nimmt die Versatzstücke des Genres und macht mit ihnen sein ganz eigenes Ding. Wie Corso es sich eingerichtet hat in seinem Bergdorf, seine gut kaschierte Liebe zur Kellnerin und Putzfrau Elena aus Rumänien, der Mikrokosmos der Schule, an der er unterrichtet: All das scheint Longo viel wichtiger zu sein als die Ermittlung oder die Identität des Täters oder gar dessen Motivation. Einige Male fühle ich mich an die Kriminalromane von Friedrich Dürrenmatt erinnert. Das macht diesen Bramard schon besonders, dessen Macken und Eigenheiten Teil eines interessanten und schlüssigen Charakters sind und nicht die Signature Moves, mit der sich ein Ermittler in unser Gedächtnis brennen soll, wie bei anderen Krimiautoren. Auch die Lokation spielt in diesem "Krimi aus dem Piemont" eine besondere Rolle - eben als Teil der Stimmung, und nicht in jener vordergründigen Weise, in der Regionalkrimis sonst die Urlaubssehnsüchte von Touristen bedienen, die es nicht erwarten können, ihre heißgeliebten Bretagne / Provence / Venedig / Garmisch / Sylt wiederzusehen. Nein. Hier wird nichts zelebriert oder aufgehübscht - Turin ist Turin und das Land drumherum, so, wie es eben ist, keine Sehenswürdigkeiten, kein Wiedererkennen, Isa und Corso essen nicht die wunderbaren und ungesunden Herrlichkeiten der typisch piemontesischen Küche, sie futtern Omelette und Kebab.Als genretypischer Krimi am Ende unbefriedigend, aber mit starker Atmosphäre und interessantem Personal - ich glaube, ich werde Bramard nochmal beim Ermitteln zuschauen.