Vignettenartige Zusammenstellung von Erinnerungen der Frau an ihre Kindheit in Vietnam, ihre Flucht, Emigration und Immigration
Erstveröffentlichung: 2009Rezension basiert auf der Übersetzung von Andrea Alversmann, Brigitte Große für den Antje Kunstmann Verlag, 2010InhaltDas Leben der Hauptperson wird ganz entscheidend von der Geburt in Vietnam zur Zeit des Zweiten Indochinakrieges geprägt. Bleibt sie dank der Stellung ihrer Eltern zunächst von den Auswirkungen des Krieges verschont, wird das Haus der Familie dennoch vom kommunistischen Militär zur Hälfte beschlagnahmt; später muss sie es ganz räumen. Als die Hauptperson zehn Jahre alt ist, flieht die Familie aus ihrer Heimat. Zunächst bildet die Kindheit in Saigon den Schwerpunkt der Erzählungen, die Erfahrungen der Flucht, im malaysischen Flüchtlingslager und in Kanada stehen jedoch gleichberechtigt daneben. Eine berufsbedingte monatelange Rückkehr nach Vietnam ermöglicht schließlich einen Blick der Ich-Erzählerin auf die Veränderungen im Land.AnmerkungenDie Autorin vermischt autobiografische und fiktive Erlebnisse zu einem autofiktiven Werk. Dementsprechend heißt die Erzählerin An T¿nh Nguy¿n, und das Buch erhielt die Gattungsbeschreibung Roman, nicht Memoir.Der Roman sammelt skizzenartig ausgearbeitete Episoden aus An T¿nhs Leben, gleichsam einem Bewusstseinsstroms werden die bis in ein ¿Heute¿ (Das Buch wurde 2009 veröffentlicht) reichenden Zeitebenen miteinander verflochten. Die einzelnen Gedankensplitter nehmen jeweils aufeinander Bezug nehmen, indem sie eine Formulierung, eine genannte Person in der nächsten Miniatur wieder aufnehmen.Die einzelnen Beschreibungen umfassen zwischen einer und drei Seiten und werden aus der Perspektive der Erwachsenen geschildert. Erlebnisse der Erzählerin als Kind können somit einerseits aus der damaligen Perspektive vermittelt, aber zugleich von der Erwachsenen in einen anderen Kontext eingebunden und erläutert werden.Auf diese Weise bewahren sich die einzelnen Ereignisse ein Geheimnis, denn es wird zwar das einzelne Gerüst der jeweiligen Geschichte erzählt, deren Ausschmückung etwa mit Dialogen und Bildern jedoch der Fantasie der Leserinnen und Leser überlassen.Die Ich-Erzählerin enthält sich dabei jedes Kommentars, wenn sie etwa über die von ihr wahrgenommene Prostitution in Vietnam schreibt, oder stellt lediglich das Vorhandensein von Gefühlen fest, ohne dieses ausschmücken zu müssen.Kim Thúy wurde 2018 auf die Shortlist des Alternativen Literatur-Nobelpreises gewählt.FazitDer Autorin gelingt es in dem schmalen Band, den man an einem Nachmittag durchlesen kann, ganz verschiedene Themen unterzubringen. Die Beschreibung ihres Geburtslandes zum Zeitpunkt des Krieges und der Veränderungen nach der Wiedervereinigung sowie seiner verschiedenen Bevölkerungsschichten entfalten ein Zeit- und Gesellschaftsdokument Vietnams. Die Beschreibung der Flucht, der Lebens in dem Lager in Malaysia sowie die Anfangszeit in Kanada steht nicht für das einzelne Flüchtlingsschicksal dieser Person; vielmehr wird auch hier ein ganzes Panorama an Person (Flüchtigen, Helfern, Freunden, Verwandten) aufgeboten, das fast zwangslos die Aktualität des Romans vor Augen führt und den Raum für verschiedenste Assoziationen weckt. Schließlich kann in der Darstellung des aktuellen Lebens der Erzählerin etwa in Hinblick auf ihre Kinder der Schlusspunkt ihrer Erwachsenwerdung gesehen werden: eine Frau, die sich ihrer familiären und kulturellen Wurzeln ebenso bewusst ist wie ihrer Veränderung infolge der Migration in den Westen. Dem Horror der Flucht und Verlust der Emigration wird das Glück der Integration entgegengestellt sowie der Gewinn, den diese für das aufnehmende Land bedeuten kann.Gerade das Stilmittel der Autorin, die einzelnen Anekdoten durchgehend in einem sachlichen Ton zu halten, vermeintlich sinnliche Erfahrungen lediglich zu benennen, statt sie mit einer Ausschmückungen und einer prächtigen Sprache mit Leben zu füllen, lässt die hier und da dann doch auftauchenden bilderreichen Formulierungen oder Mininaturen umso stärker hervortreten und glänzen.Klischeehafte Zuschreibungen wie ¿exotisch¿ hat das Werk gar nicht nötig, und sie führen wie auch der unglückliche Titel eher ins Leere, weil die Autorin ihr Land gerade nicht ausstellt und weil die Fremde in dem Roman Kanada ist, nicht Vietnam.Die Höchstwertung habe ich vergeben, weil ich nach Beendigung der Lektüre bemerkte, wie die einzelnen Vignetten bei mir persönlich nachhallten. Sie brachten mich dazu, das Geschilderte mit Farben, Gerüchen und Geräuschen zu versehen, die die Autorin gar nicht benannt hat. Die Lücken, die sie ließ, sind durch meine Fantasien gefüllt worden und bereichern die Wahrnehmung des Romans. Dadurch entsteht noch im Nachhinein eine besondere Nähe zu dem Gelesenen.