Verborgenes Tokio

Besprechung vom 12.09.2024

Durch Tokios vergessene Gassen

Ein mit Liebe zum Detail und Blick für Skurriles und Ephemeres erstellter Band von Pierre Mustière und Yoko Kera wirft neue Perspektiven auf die Millionenmetropole Tokio. Er sucht nach Spuren ihrer von Kriegen, Krisen und Erdbeben erschütterten Vergangenheit und Indizien einer von Konsum und neoliberalen Irrlichtern, aber auch Hoffnungszeichen geprägten Gegenwart. So wirkt ein Buddha-Kopf im Ueno-Park als Überbleibsel des beim Erdbeben 1923 zerstörten "Großen Buddha vom Ueno" wie ein Symbol der Widerstandskraft der Japaner. Das Werk umspielt Ruinenliebe und Nostalgie nach Relikten des Glücks sowie Reminiszenzen des japanischen Wirtschaftswunders. Die Autoren folgen ehemaligen Zuggleisen, sichten aufgelassene Bahnhöfe, überwucherte Brücken und überdachte Einkaufspassagen, die "in den 1960er-Jahren einfach den Pause-Knopf" drückten. Statt Attraktionen beleuchtet der Band schwer zugängliche "tote" Bereiche Tokios, wie den auf dem Dach eines Recyclingzentrums gedeihenden Morigasaki-Park.

Die Auswahl der Orte lässt die Leser in das Kollektivbewusstsein der Japaner reisen. Das Buch überzeugt mit indirekten Evokationen historischen Leids, wenn es Spuren von Brandbomben auf der Nihonbashi-Brücke bemerkt oder zum Tierdenkmal im Ueno-Zoo führt, der im Zweiten Weltkrieg viele Opfer unter den Tieren beklagte. Es porträtiert das Sugamo-Gefängnis als Geschichtsspiegel: Zunächst Gefängnis für Dissidenten und nach 1945 Vollzugsanstalt der Alliierten für Kriegsverbrecher, ragt auf seinem einstigen Platz als Sitz von Finanzdienstleistern und Banken der Wolkenkratzer "Sunshine 60" in die Höhe. So gelingt es den Autoren, anhand vergessener Gassen, Orte und Gebäude eine faszinierende alternative Stadtführung und Mikrogeschichte Tokios zu entwerfen. STEFFEN GNAM

Pierre Mustière und Yoko Kera: "Verborgenes Tokio". Jonglez Verlag, Berlin 2024. 336 Seiten. Geb.