Besprechung vom 19.12.2024
Die Schlacke der Stadt
Olga Campofredas Roman "Anständige Mädchen"
Die Stadt als Sehnsuchtsort: Wer es hier schafft, schafft es überall. Als Kontrapunkt dazu die Stadt als öder Ort, zu Hitlisten der freakigen Art zusammengestellt und nur mit Ekelfaszination zu ertragen, ansonsten jedoch tunlichst zu meiden.
Olga Campofreda geht einen anderen Weg. In ihrem Roman "Anständige Mädchen" lässt sie die Ich-Erzählerin ihre kleine Stadt nicht verraten, auch wenn sie sich dieser schämt: Als sie von ihrem aktuellen Wohnort London nach Italien zurückfliegt und kurz vor der Landung gefragt wird, ob sie denn aus Neapel sei, bestätigt sie das. Wozu auch ihren eigentlichen Geburtsort erwähnen, dieses Provinznest, das niemand kennt. Lieber etwas dicker auftragen: "Die Casertaner sagen, sie kommen aus Neapel, der Königspalast tut so, als wäre er der Vatikan."
Campofreda verbindet einiges mit ihrer Protagonistin. Die Autorin wurde 1987 in Caserta geboren und lebt heute in London. Ihr schmaler Roman zeichnet ein gelungenes Porträt jener Generation, die inzwischen in den Dreißigern ist und deren Eltern ihr eine Kindheit bieten wollten ohne die Not, "teilen zu müssen. Wir hatten alles für uns, und dieses Privileg hat uns einsamer gemacht." Damit geht auch der Verlust des Individuellen einher. Und wenn Clara diesmal nach Caserta zurückkehrt, weil ihre Cousine heiratet, dann wird dies für sie auch Anlass sein, in einer Rückschau zu erkunden, was sie mit denjenigen verbindet, die nicht fortgegangen sind.
"Rossella ist der Teil von mir, der nicht fortgegangen, sondern geblieben ist." Diese Erkenntnis ist Dreh- und Angelpunkt von Claras Selbstbefragung. Geht es um grundverschiedene Lebensentwürfe, oder geht es darum, neue Formen für die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Begehrensformen zu finden? Diese Befragung bettet Campofreda in eine gelungene, häufig sehr sinnliche Darstellung der Stadt ein. "Mit den Jahren ist die Stadt in mich eingedrungen. Ihre Schlacke hat sich in meinen Adern und in manchen Gedanken abgesetzt, gegen die ich mich noch immer heftig wehre." Diese Stadt impft Clara einen "Hang zum Gehorsam" ein, weshalb sie mit Anfang zwanzig ihr Studium abbricht und nach London geht. Eine turbulente Phase bricht an mit Datingplattformen, Italienischunterricht für reiche Londonerinnen und einer unverbindlichen Langzeitbeziehung.
Campofreda ist eine kluge Erzählerin, die sich nicht mit schlichten Erklärungen zufriedengibt. Wohlstandsvernachlässigung und Patriarchat reichen allein nicht aus, um zu erklären, wie bestimmte Verhaltensmuster Generationen, Klassen und letztlich auch Geschlechter überdauern konnten. Warum ihre alten Freundinnen unbedingt klarstellen müssen, zwar "Vollzeitmütter" zu sein, "aber nur, bis die Kinder groß genug sind". Oder warum - im Falle offensiver Partnersuche - die Urangst darin besteht, "für verzweifelt gehalten zu werden". Alles, was als Eingeständnis interpretiert werden kann, das eigene Leben sei nicht perfekt, jagt Grauen ein.
In der Rückschau hat Clara vor Augen, wie sie als Jugendliche Abenteuerromane verschlungen hat. Die Lektüre stellte "meinen banalen Alltag mit einem Surrogat heftiger Gefühle auf den Kopf, andererseits zögerte sie das Begreifen der von mir bewohnten Welt und meiner Haltung zu ihr auf unbestimmte Zeit hinaus". Mit Mitte dreißig ist sie so weit, sich diesem Begreifen zu stellen und ihre bisherigen Entscheidungen auch als trotzige Reaktion auf Vorgaben zu interpretieren: Eine Tochter aus gutem Haus studiert? Dann bricht sie ihr Studium ab. Eine solche Tochter heiratet? Dann tindert sie.
Campofreda zeichnet überzeugend nach, wie Clara ihre "altmodischen" Wünsche zu akzeptieren lernt, das Studium wieder aufnimmt, ihren Freund auf eine gemeinsam Zukunft anspricht. Und wie sich herausstellt, gibt es noch andere Wege als die ausgetretenen. Ob sie gangbar sein werden, lässt Olga Campofreda offen. Sie ist, wie gesagt, eine kluge Erzählerin. CHRISTIANE PÖHLMANN
Olga Campofreda: "Anständige Mädchen". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Nonsolo Verlag, Freiburg 2024. 216 S., geb.
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