Algorithmen bestimmen unsere Lage. Vom Google-PageRank-Algorithmus bis zur Kreditvergabe greift ihre Logik auf Schritt und Tritt in unser Leben ein. Einige von ihnen arbeiten undurchsichtig und schirmen ihr Innenleben vor neugierigen Blicken ab. Andere bemühen sich um Transparenz und folgen einer Ethik des Open Source. In beiden Fällen ist jedoch ein nicht unerheblicher Aufwand erforderlich, um die Quellcodes zu verstehen, in denen Algorithmen geschrieben sind. Codes sind besondere Texte: Sie setzen Befehle um, wenn sie ausgeführt werden, und reduzieren Expression auf Direktiven. Sie sind somit mehr und weniger als gewöhnliche Sprache. Zugleich führen sie mit der Möglichkeit zur Kommentierung stets eine Metaebene mit, auf der man sich über ihre Funktionsweise verständigen kann. Daher erfordern sie auch eine besondere Philologie. Die Quellcodekritik, die dieser Band vorstellt, ist der Versuch, Algorithmen zu erschließen, zu interpretieren und sie gegenwärtigen wie zukünftigen Leser*innen zugänglich zu machen. Sie mobilisiert einen Zugriff, der in der Informatik ebenso zu Hause ist wie in der Textkritik. Zugleich schlägt sie Strategien vor, auch mit jenen neuen Sprachmodellen umzugehen, in denen Codes nur am Anfang stehen, während ihr statistisches Inneres undurchdringlich bleibt. Die Beiträge liefern so Beispiele und Methoden, wie klassischer Code und künstliche Intelligenz lesbar zu machen sind.
Besprechung vom 05.06.2024
Programme muss man zu lesen wissen
Ein Band macht sich daran, Geisteswissenschaftler auf Augenhöhe mit IT-Entwicklern zu bringen
Der öffentliche Diskurs über Informationstechnologie und Netzpolitik ist stark von den Pressemitteilungen der IT-Konzerne und ihrer Risikokapitalgeber geprägt. Jede Mustererkennung und jeder Maschinenlernalgorithmus wird schnell zur generalisierten Künstlichen Intelligenz aufgeblasen, um den Börsenkurs nach oben zu treiben. Der Hype zieht die üblichen Instant-Kritiker an, und das Ergebnis ist vorhersehbar.
Da ist ein Band erfreulich, dessen Autoren auf methodische und begriffliche Präzision bedacht sind. Die Herausgeber, Markus Krajewski und Hannes Bajohr, bewegen sich in der Hardware-nahen Tradition der Medienwissenschaft eines Friedrich Kittler, stehen aber in ihrer Klarheit und Pragmatik letztlich dem amerikanischen Informatiker Donald Knuth näher, der über die Programmierung von Computern und die Ästhetik von Code gearbeitet hat - von der Theorie bis hin zur Erfindung des Satzsystems TeX.
Knuth schrieb über sein Buch "Literate Programming", dessen grundlegende Idee bestehe darin, "ein Programm als literarischen Text zu begreifen, der sich zuerst an Menschen richtet, dann erst an einen Computer". Bajohr und Krajewski verstehen diese Idee als Auftrag und fordern eine entsprechend informierte Kritik des Codes und der darin eingebetteten Metainformationen. Mit der Berücksichtigung des Produktionskontexts und der Auffassung von "Algorithmen als soziale Akteure" ergeben sich dabei auch Berührungspunkte mit Ansätzen Bruno Latours. Wobei die vorgestellte Quellcodekritik enger am Programmtext und dessen integrierten Kommentaren bleibt und nicht zwingend die gängigen Produktionsumgebungen wie Ticketing-Systeme, Kanban-Boards, Dokumentationswikis und informelle Treffen zwischen Projektmanagern und Programmierern an der firmeneigenen Kaffeemaschine mit erfassen möchte.
Wie Donald Knuth geht es den Autoren darum, Programmieren als Kulturtechnik zu fördern und Geisteswissenschaftlern die notwendigen Fähigkeiten an die Hand zu geben, Software zu verstehen und produktiv kritisieren zu können. Dabei sind sie sich der Schwierigkeiten bewusst, mit denen ein solches Unterfangen konfrontiert ist. Schließlich besteht im Bereich der Software eine robuste Asymmetrie der Kenntnisse zwischen den Programmierern und ihren potentiellen Kritikern. Wie der Medienwissenschaftler Mark C. Marino in seinem Beitrag schreibt, ist Software oft Geschäftsgeheimnis und der Quellcodekritik schlicht nicht zugänglich.
Schon in der Technikfolgenabschätzung fällt es akademischen Institutionen schwer, mit den gewaltigen finanziellen und personellen Ressourcen jener Großkonzerne mitzuhalten, die den Takt in der Softwareentwicklung vorgeben. In seinem Beitrag "Wie liest man 100.000 Zeilen Code?" zeigt Till A. Heilmann, mit welchen Methoden er den Quellcode der ersten Version von Adobe Photoshop zur Analyse aufbereitet hat. Dieses Programm aber ist 1990 veröffentlicht worden. Die Methoden der Softwarebranche und die Komplexität ihrer Produkte haben sich seither stark verändert. Software, die aktuell gesellschaftlich relevant ist, wie die Anordnungsalgorithmen der chinesischen Videoplattform Tiktok, die Cloud-Computing-Systeme Microsoft Azure oder Amazon AWS oder Anwendungen auf Grundlage großer Sprachmodelle, müsste wohl mit anderen Methoden erschlossen werden. Es ist ein amüsantes Gedankenexperiment, sich eine akademische Institution vorzustellen, die solche dynamischen Projekte zeitnah profunder Analyse und Kritik unterziehen könnte.
Trotz aller offensichtlichen Probleme des Projekts Quellcodekritik ist ein konstruktives Forschungsprogramm der oft geübten reflexartigen Ablehnung von IT-Systemen zum Maschinenlernen oder der regelbasierten Anzeige von Medieninhalten unbedingt vorzuziehen. Krajewski und Bajohr sind keine digitalen Kulturpessimisten, auch wenn sie die Probleme der Softwarebranche und ihres eigenen Forschungsprogramms sehen und benennen.
Im Grunde geht es bei der Quellcodekritik darum, die Methoden der Medienwissenschaft anschluss- und zukunftsfähig zu halten, auch um sich interdisziplinär auf Augenhöhe mit anderen Praktikern austauschen und daran arbeiten zu können, IT-Quatsch von relevanten Phänomenen zu sondern. Insofern ist "Quellcodekritik" ein wichtiges Buch. GÜNTER HACK
Hannes Bajohr, Markus Krajewksi (Hrsg.): "Quellcodekritik". Zur Philologie von Algorithmen.
August Verlag, Berlin 2024.
336 S., br.
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