Weltweit gilt die italienische Küche als Inbegriff von Genuss und kulinarischer Perfektion. Und nichts ist in Italien so heilig wie die prodotti tipici, die regionalen Spezialitäten.
Kaum ein anderes Buch erhitzte die italienischen Gemüter daher so sehr wie die Erkenntnisse des in Parma lehrenden Wirtschaftshistorikers Alberto Grandi: Die heute viel gehypte Authentizität italienischer Produkte sei vor allem auf geschickte Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie in den 1970er-Jahren zurückzuführen.
Das nationale Selbstverständnis seines Landes brachte Alberto Grandi damit gewaltig ins Wanken.
Besprechung vom 17.06.2024
Die Verdammnis der heiligen Carbonara
Italiens Küche ist gar nicht alt und echt, sondern wurde erst vor 50 Jahren erfunden. Das behauptet der Historiker Alberto Grandi und versetzt damit eine ganze Nation in Aufruhr. Ist er dem großen Selbstbetrug auf der Spur?
Die Kleinstadt Forlimpopoli in der Emilia-Romagna feiert dieser Tage wie jedes Jahr ein gargantueskes Sinnesfreudenvolksfest zu Ehren ihres berühmtesten Sohnes. Pellegrino Artusi bereiste Ende des 19. Jahrhunderts sämtliche Winkel Italiens, befragte Tausende von Hausfrauen, Feinschmeckern und Profiköchen nach den typischen Gerichten ihrer Heimat, destillierte daraus knapp 800 Rezepte und veröffentlichte sie in seinem epochalen Werk "La scienza in cucina e l'arte di mangiar bene" - "Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens". Es ist die bis heute in höchsten Ehren gehaltene Heilige Schrift der authentischen italienischen Küche. Eine Lesung des Historikers Alberto Grandi aus seinem gerade auch auf Deutsch erschienenen Buch "Mythos Nationalgericht" ist unseres Wissens in Forlimpopoli nicht vorgesehen - zum Glück, denn sonst wären Tumulte unausweichlich. Grandi, der an der Universität von Parma zur Wirtschaftsgeschichte forscht, vertritt nämlich sehr lautstark die ketzerische, hochverräterische, ein ganzes Land in Aufruhr versetzende These, dass die italienische Küche noch keine fünfzig Jahre alt und im Wesentlichen eine Erfindung windiger Marketing-Menschen ist.
Die schwere Wirtschaftskrise der Siebzigerjahre sei für Italien ein Schock gewesen. Deswegen habe sich die verunsicherte, in ihrem Glauben an den Fortschritt tief erschütterte Nation zur Selbstvergewisserung angeblicher kulinarischer Erbschaften besonnen, die es niemals gegeben habe. "Von da nahm die Erfindung der Vergangenheit und Tradition ihren Ausgang, als Zufluchtsort und Rettungsanker in einer Welt, die zu kompetitiv und feindlich geworden war, um ihr mit Offenheit zu begegnen", schreibt Grandi seinen Landsleuten ins kulinarische Stammbuch. "Kleine Reste irgendwelcher längst vergessener Traditionen oder Geschichten transplantierte man in die neue Gesellschaft, die damit nicht mehr das Geringste zu tun hatte, und formte das Ganze zu einem für den Massentourismus tauglichen Mythos."
Auch Pellegrino Artusi bekommt sein Fett weg. Er sei "weder Koch noch Hobbyküchenhistoriker" gewesen und überhaupt ein Mann von zweifelhafter Gesinnung. "Fast hat man den Eindruck, Artusi hätte in vorauseilendem Gehorsam einer gewissen faschistischen Rhetorik entsprechen und die Rolle des bedeutenden Agrarstaats für Italien zurückerobern wollen", so Grandi. Die wegweisende Arbeitsweise Artusis wird ebenfalls verdammt. Da der Feinschmecker aus Forlimpopoli wusste, wie dynamisch jede kulinarische Entwicklung ist, meißelte er seine Rezeptsammlung nicht in Stein, sondern ermunterte die Italiener, ihm unbekannte Gerichte zu schicken und schon erfasste Rezepte zu verbessern. "Was heute als erster Abriss der italienischen Küche gilt, entstand dilettantisch, ohne konkretes Ziel und ohne realen oder intendierten Bezug zur vorausgehenden Tradition." Mit anderen Worten: Pellegrini Artusi, um den jeder Genießer von Sinn und Verstand auf dieser Welt Italien heftig beneidet, war ein Idiot, und alle, die ihm bis heute glauben, sind es auch: "Tatsache ist jedenfalls, dass ein von einem Dilettanten zusammengeschustertes Buch zu einem Meilenstein in der Geschichte der italienischen Küche wurde."
Dieser Satz liest sich wie eine Selbstbeschreibung von Alberto Grandis versuchter Vernichtung der italienischen Küche. Sein eigenes Buch steckt voller billiger Polemik, haarsträubender Behauptungen und argumentativer Absurditäten. Kopfschüttelnd fragt man sich, welcher Teufel außer der Lust an der Provokation ihn reitet, solchen Unfug über die angebliche Tyrannei eines Paradigmas der reinen Vernunft zu schreiben: "Ein industriell hergestelltes Lebensmittel ist per definitionem weniger in einem Gebiet verwurzelt, weniger unverfälscht und daher weniger gut als sämtliche nicht industriell hergestellten Lebensmittel. Ich behaupte nun, das Gegenteil ist der Fall."
Und warum verschließt er wie ein trotziges Kind die Augen vor der Wirklichkeit, wenn er den Wert geschützter Herkunftsbezeichnungen in Zweifel zieht? In Italien herrsche mehr als in anderen Ländern "der absurde Anspruch, Traditionen per Dekret zu kodifizieren, ohne zu hinterfragen, ob der verbissene Versuch der Zertifizierung für die jeweiligen Gebiete überhaupt Vorteile hat". Weiß Grandi nicht, dass kein anderes Land auf der Welt stärker von solchen Zertifizierungen profitiert als Italien, dass sie ein Qualitätsanreiz für die Produzenten und eine Qualitätsgarantie für die Konsumenten sind? Sie sind ein Segen und das Spiegelbild des tiefen Bewusstseins für die eigenen kulinarischen Schätze. Doch Grandi disqualifiziert sie lapidar als unlauteres Mittel, um höhere Preise verlangen zu können.
Ein einziges Beispiel, bei dem zweifelsfrei Schindluder mit den Herkunftsbezeichnungen getrieben wird, nennt er die Pachino-Tomate aus Syrakus auf Sizilien. Sie wurde nicht schon von Normannen und Staufern kultiviert, sondern entstand erst 1989 im Labor eines israelischen Agrarkonzerns - es ist ein schwarzes Schaf unter 321 geschützten Ursprungsangaben. In allen anderen Fällen belässt es Grandi bei purer Spekulation und stellt etwa apodiktisch fest, dass das italienische Nationalheiligtum Spaghetti Carbonara "ganz klar ein amerikanisches Gericht" sei, weil erst die amerikanischen Besatzungstruppen die entscheidenden Zutaten geliefert hätten. "Ich würde behaupten, dass sie nichts anderes sind als ein typisch amerikanisches Frühstück (Eier mit Speck), dem man Nudeln hinzufügte." Gab es in Italien vor 1945 keine Eier und keinen Speck? Was hatten selbst die ärmsten Bauern, wenn nicht gerade das? Und warum liefert Grandi nicht den geringsten Beweis für seine Behauptung, sondern lässt sie wie einen blechernen Donnerhall im Raum stehen?
Im nächsten Moment wird dann aus dem Nestbeschmutzer ein Nationalist, der allen Ernstes behauptet, dass die italienische Pasta in Wahrheit gar keine richtige Italienerin, sondern eine Afrikanerin sei, weil in die beliebteste Sorte Hartweizengries eine tunesische Variante eingekreuzt wurde. Und dass ein Drittel des Weizens aus dem Ausland kommt, ist für Grandi Grund genug, der Pasta ihre Nationalität abzuerkennen. In welcher Welt lebt der Mann? Ist ihm nicht bekannt, dass Lebensmittel - angefangen mit dem Gewürzhandel zu Zeiten der Babylonier - seit jeher die globalsten aller Waren sind? Begreift er nicht, dass in der Kulinarik Kontinuität immer auch Veränderung bedeutet? Darf er einem Klassiker der italienischen Küche wie dem Parmesan seine Tradition absprechen, weil die Laibe heute größer und schwerer als früher sind und seine Konsistenz trockener und körniger ist?
Die Pasta hat es Grandi ohnehin angetan. Schon Boccaccio erwähnt im "Dekameron" Ravioli, Lasagne, Maccheroni und sogar ein ganzes Gebirge aus Parmesan, doch das ficht ihn nicht an: "Zu behaupten, Pasta sei ein typisch italienisches Gericht mit einer Tradition vom Mittelalter bis heute, wäre jedoch übertrieben." Auch Tortellini, Tortelli, Cappelletti, Cappellaci oder Agnolotti sind für ihn keine genuin italienischen Spezialitäten - mit der abenteuerlichen Begründung, dass es gefüllte Teigtaschen in aller Welt gebe. Im Umkehrschluss sind Gyoza und Dumpling also nicht typisch japanisch und chinesisch, nur weil die Italiener Ravioli essen. Japaner und Chinesen würden in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn sie einen solchen Quatsch hörten. Und als wäre das des Unsinns noch nicht genug, widerspricht sich Grandi gleich darauf selbst: "Tatsächlich wurden im Lauf des 15. und 16. Jahrhunderts Ravioli und gefüllte Torten oder Pasteten das Symbol der italienischen Hofküche und blieben es in gewisser Weise auch in den späteren Jahrhunderten." Also doch Tradition? Oder doch nicht?
Alberto Grandi biegt sich seine Welt so zurecht, wie es ihm gefällt und wie es kein seriöser Historiker wagen würde. Könnte die Geschichte des Parmesans bis in die Zeit des römischen Imperiums zurückreichen? Nur dann nicht, wenn man die Augen fest zusammenkneift: "Lassen wir mal die Römer beiseite, insbesondere Plinius und Martial, die hin und wieder zitiert werden, um zu belegen, in welchem Winkel der Poebene bereits in der Antike Käse hergestellt wurde." Auf deren "Binsenweisheiten" könne man nämlich getrost verzichten. Ist es bemerkenswert, dass der berühmte Renaissance-Dichter Ludovico Ariosto immer wieder Balsamico-Essig erwähnt, könnte das ein Indiz für seine Bedeutung und Präsenz im Leben seiner Zeitgenossen sein? Nicht der Rede wert, befindet Grandi, denn "wie dieser hergestellt wurde und schmeckte, erfahren wir von ihm natürlich nicht". Und ganz bizarr wird es, wenn Grandi die Existenz der Regionalküchen unter anderem mit dem Argument leugnet, dass es in Italien erst seit 1970 Regionen als offizielle Gebietskörperschaften gibt. Braucht man einen bürokratischen Verwaltungsakt, um eine Kulturlandschaft zu definieren? Hat es nur deswegen bis vor 50 Jahren keine ligurische Küche gegeben, weil es die Verwaltungseinheit Ligurien nicht gab? Immerhin hat Alberto Grandis seltsames Buch ein Gutes: Dass sich ganz Italien so leidenschaftlich darüber aufregt, beweist, wie lebendig und kraftvoll die Küche und die kulinarische Kultur der Italiener sind. JAKOB STROBEL Y SERRA
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.