Besprechung vom 06.01.2020
Die große französische Lüge
Keine Polizei ohne schmutzige Ware: Hannelore Cayre dreht in "Die Alte" den Spieß um und zeigt den Drogenhandel einmal von einer ganz anderen, aberwitzigen Seite.
Dieser Roman enthält diverse politisch unkorrekte Ausdrücke. Um den Sarkasmus der Autorin nicht zu entstellen, wurden sie präzise ins Deutsche übernommen. Alles andere wäre erst recht unkorrekt." - Der Hinweis des Verlages macht Hoffnung, und diese wird nicht enttäuscht. Was die französische Autorin Hannelore Cayre hier auf nicht einmal zweihundert Seiten auffährt, ist großes Erzählkino, absolut politisch unkorrekt, staatsverdrossen kapitalismuskritisch, seelenabgründig tief, dabei selbstironisch und witzig. Obendrein in einen der cleversten Plots seit langem verpackt. Mit einem Wort: Langsam lesen, es geht viel zu schnell vorbei.
Warum wurde diese Autorin bislang übersehen? Wurde sie nicht. Es war - einmal mehr - dem Unionsverlag in Zürich zu danken für die Entdeckung zweier heute längst vergriffener Romane "Der Lumpenadvokat" (2007) und "Das Meisterstück" (2008). "Durchgebracht" hat der Verlag Hannelore Cayre damals nicht, das ist beim aktuellen Überangebot von Kriminalromanen schon beinahe die Regel. Mittlerweile ist die Autorin sechsundfünfzig Jahre alt. Aus der Controllerin von einst, die für eine Filmproduktionsfirma arbeitete, ist eine Strafverteidigerin geworden, die in den Banlieues von Paris Migranten beziehungsweise von Migranten abstammende Franzosen verteidigt, weil sie das "spannend" findet. Ihren Vornamen kann man deutsch aussprechen (Cayres Mutter war Österreicherin) oder französisch; den Nachnamen wie das englische "care".
Abstammung spielt im Roman für dessen Protagonistin eine entscheidende Rolle. Ihr Vater, ein längst verstorbener pied noir, ein französischstämmiger Tunesier, war Generaldirektor einer Speditionsfirma, die ihr Geld mit Transporten in "Drecksländer" verdiente, die auf -an enden. Neben der regulären Fracht waren die Lkw stets mit Waffen oder Drogen beladen. Die Familie wohnt direkt an der Autobahn, in einem Anwesen, das hochtrabend "die Besitzung" genannt wird. Die Mutter, eine Wiener Jüdin, die das Konzentrationslager überlebt hat, ist "sehr schön, aber von absolut null Gebrauchswert".
Ihre Tochter leidet unter bimodaler Synästhesie, Farben und Formen sind mit Geschmack oder Empfindungen gekoppelt. Sie ist nicht nur deswegen eine Verwandte von Harry Binghams Ermittlerin Fiona Griffiths (F.A.Z. vom 1. April 2019). Beide Frauen verkörpern einen neuen Typ weiblicher Figurenzeichnung; Frauen, die nicht nach dem Superheldinnen-Muster geformt sind, sondern selbstbewusst, intelligent und altersgerecht mit ihren Defiziten umgehen.
Die Ich-Erzählerin hört auf den schönen Namen Patience Portefeux, was an Portefeuille - Aktien- oder Wertpapierbestand - erinnert. Denn immerzu geht es in diesem Roman um Geld beziehungsweise dessen Abwesenheit. Erst ist es überreichlich vorhanden, durch den Vater, dann durch Patiences Ehemann. Da Letzterer aber im zarten Alter von siebenundzwanzig Jahren das Zeitliche segnet, steht die exzentrische Patience mit einem neugeborenen und einem noch sehr kleinen Mädchen sowie der zu versorgenden Mutter irgendwann mittellos da. Von ihrem Kindertraum, Feuerwerke zu sammeln, muss sie erst einmal Abstand nehmen.
Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist seit jeher mies, nicht nur weil sie sie schon auf Kinderbildern als "fette haarige Spinne mit zwei größeren Klauen als Beinen" malte. Es liegt hauptsächlich daran, dass der Mutter einzige Begabung darin besteht, "Däumchen zu drehen und dabei stets überlastet zu wirken". So ist Patience gezwungen, die demente Mutter und ihre Töchter als Arabisch-Übersetzerin für das Drogendezernat durchzubringen. Zweiundvierzig für die erste Stunde, danach dreißig Euro. Allein das "Sterbeheim" für die Mutter kostet 3200 Euro im Monat.
Ein sich abgehängt fühlendes Neidschaf ist sie deswegen nicht geworden. Durch ihre Tätigkeit weiß sie über die Araber, was das Vorurteil negiert: "Wie bei allen anderen gibt es auch bei ihnen Menschen jeder Sorte." Patience darf im Homeoffice abgehörte Telefonate übersetzen, Gespräche, in denen sich die Dealer "als die Deppen outen, die sie sind". Mit anderen Worten: Wie Heerscharen von Polizisten lebt auch die verwitwete Madame Portefeux vom Drogenhandel. Und auf einmal winkt das große Geld.
Ein sehr fleißige marokkanische Familie - die Mutter arbeitet als Pflegerin im "Haus Windspiel", wo Patiences Mutter vor sich hinrandaliert und -vegetiert - importiert hochwertiges Rauschgift, das der Fahrer kurz vor seiner Festnahme kurzerhand in die Landschaft kippt. Diesem Afid verpasst Cayre eine für das heutige Frankreich typische Biographie: Nach einem Fachhochschulabschluss in Karosserietechnik mit "sehr gut" und dem Plan, an der Cote d'Azur eine Werkstatt für Luxusautos zu eröffnen, knallt ihm die "Große Französische Lüge voll ins Gesicht" - als Araber würde er nie einen wirklich tollen Job in diesem Land bekommen.
Patience besorgt sich einen Drogenhund, findet die Ware. 1,2 Tonnen feinstes Cannabis, Marktpreis 5000 Euro das Kilo. In Reisetaschen verpackt, schleppt die zur Dealerin mutierende Übersetzerin den Stoff in den Keller des Miethauses, in dem sie wohnt. Und nun beginnt das "Abenteuer". Sie macht sich daran, den Stoff zu versilbern, um ihren Töchtern und sich selbst die Zukunft zu sichern. Mehr soll hier nicht verraten werden, außer so viel: "Der Schluss meines Abenteuers ist nicht mehr so interessant, obwohl er mit einer Staatsaffäre endete."
Diesmal hat es mit dem Durchbruch geklappt: Zwei französische Preise hat der Roman eingeheimst, unlängst folgte der Deutsche Krimipreis. Im März kommt er nach einem Drehbuch der Autorin in die französischen Kinos mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Unter uns Krimischwestern - die Besetzung mit Hannelore Cayre wäre mindestens ebenso verlockend gewesen.
HANNES HINTERMEIER
Hannelore Cayre: "Die Alte".
Deutsch von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2019.
203 S., geb., 18.- [Euro].
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