Besprechung vom 03.06.2020
Der Film ihres Lebens
Raketensilos, Pesterreger und verstockte Landeier in Kansas: Sara Paretsky meldet sich mit ihrer Ermittlerin V. I. Warshawski eindrucksvoll zurück.
Sie war nie weg, sie war nur nicht mehr so sichtbar wie zu ihren besten Zeiten. Sara Paretsky beglückte die Welt des Kriminalromans vor bald vierzig Jahren mit ihrer Ermittlerfigur V. I. Warshawski, einer Privatdetektivin aus Chicago, die nicht nur kein Risiko scheut, sondern dieses geradezu bereitwillig eingeht. Eine radikale, feministische Eigenwillige, deren Erfinderin mit dem Netzwerk "Sisters in Crime" das damals männerdominierte Krimigenre aufmischte. Paretsky ist politisch wach, ihr ganzes Schriftstellerleben hat sie sich für Frauenrechte engagiert und den Rassismus bekämpft.
Von 1986 an wurden deutschen Leserinnen die Warshawski-Romane im Piper Verlag nahegebracht, zehn Romane in achtzehn Jahren, dann folgten zwei bei Goldmann, einer bei Dumont. Eine siebenjährige Pause folgte, die erst 2018 endete, als der beherzte Hamburger Kleinverlag Argument in seiner Reihe Ariadne "Kritische Masse" (im Original 2013 erschienen) vorlegte. Paretsky hatte also weitergeschrieben, und mit ihr war ihre Heldin gereift und in Würde gealtert - ohne ihren Biss zu verlieren. Noch immer trainiert die Tochter eines Polizisten und geübte Schützin Karate, noch immer ist mit ihr nicht gut Kirschen essen.
Der Fall zeigt, dass es mit der Autorenpflege in Deutschland nicht immer so weit her ist, wie gern behauptet wird. Die Kasse muss schon stimmen: Das hat zuletzt etwa der Wechsel von Denise Mina gezeigt, die nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, die Schottin durchzusetzen, vom Heyne Verlag aufgegeben wurde. Nun hat sie, ebenfalls bei Ariadne, eine neue Heimat und ein neues, vermutlich kleineres, aber dafür kundigeres Publikum gefunden. Anderen ist diese zweite Chance nicht vergönnt gewesen. Die vor drei Jahren verstorbene Kalifornierin Sue Grafton debütierte im gleichen Jahr wie Paretsky, 1982 mit "A is for Alibi" und setzte bis 2017 ihre Alphabet-Reihe fort. "Y is for Yesterday" blieb kurz vor der Zielgeraden ihr letzter Roman. In Deutschland war das letzte Lebenszeichen die Taschenbuchausgabe von "R wie Rache" (Goldmann, 2006), danach stellte man die Übersetzungen sang- und klanglos ein.
Paretsky und Grafton, diese beiden großen alten Damen des Genres - Paretsky wird kommende Woche dreiundsiebzig -, eint, dass sie in ihrem Spätwerk zurück zu den Wurzeln streben, zu den Stätten und Geschichten ihrer Kindheit und Jugend. In Iowa geboren, wuchs Paretsky in Lawrence, Kansas auf, weil ihr Vater an der dortigen Universität als Zellbiologe arbeitete. Die Hunderttausend-Einwohner-Stadt westlich von Kansas City ist dominiert von Weißen, ein Viertel der Bewohner stammt von deutschen Einwanderern ab. Beschauliches Provinzleben im Mittleren Westen? Nicht ganz. Eine kleine schwarze Minderheit - zu der auch der dort aufgewachsene Dichter Langston Hughes zählte - hat es bis heute nicht leicht, am Rande dieser Mehrheitsgesellschaft ein ordentliches Leben zu führen.
Warshawski will eigentlich ihre angestammte Komfortzone Chicago nicht verlassen. "Kansas? Genauso gut könnte ich versuchen, in Mailand ein Verbrechen aufzuklären." Dennoch macht sich auf die lange Fahrt. "Als ich durch Iowa fuhr, verstand ich zum ersten Mal, wie die Pioniere aus dem Osten in dieser endlosen Landschaft wahnsinnig geworden waren. Feld folgte auf identisches Feld: braune Maisstängel, schlaff und verrottend im Regen; Strohstoppeln in grob gepflügter Erde; Farmhaus, Scheune, Baumgruppe; Maisstängel, Stoppeln, Farmhaus. Gelegentlich ein Pferd, eine Kuh oder ein Traktor."
Ihr Auftrag: den jungen Filmemacher August Veriden aufspüren, der mit einer älteren schwarzen Filmschauspielerin namens Emerald Ferring fluchtartig nach Kansas aufbrach, angeblich um an Originalschauplätzen einen Film über deren Leben zu drehen. Die Polizei sucht ihn, weil sie ihn des Arzneimitteldiebstahls verdächtig; seine Familie sieht nur rassistische Stereotype am Werk. Warshawski beißt sich an der schwarzen Nachbarschaft sowohl in Chicago als auch in Lawrence die Zähne aus. Ebenso an der örtlichen Polizei, an den Wissenschaftlern der Universität, an den Gemeindemitgliedern der Pfarrei, die das untergetauchte ungleiche Paar möglicherweise versteckt hält. Eine Störenfriedin aus der großen Stadt, die ihre Nase in Dinge steckt, die man mühsam, aber sorgfältig aus dem Gedächtnis gestrichen hat, ist nicht willkommen.
Die Detektivin stolpert nachgerade über Leichen, was sie nicht beliebter beim Sheriff macht. Als sie eine anonyme Zeugin, welche die Vermissten gesehen haben will, treffen will, findet sie diese spätnachts halbtot im Rinnstein neben einer Bar. Jemand hat Sonia Kiel, die psychisch schwer angeschlagene Tochter eines renommierten Bakteriologen und seiner alkoholkranken, streitsüchtigen Frau, mit Drogen vollgepumpt. Bald führen die Spuren in die Vergangenheit, in den Sommer des Jahres 1983, in dem nicht nur Emerald Ferring gegen die Stationierung von Langstreckenraketen demonstrierte, sondern Hunderttausende amerikanischer Frauen.
In jenem Sommer unternahm die Armee Versuche mit Pesterregern, es wurden Morde begangen, Kuckuckskinder in fremde Familiennester gelegt und passende Geschichten dazu gestrickt. Jetzt machen sich die "Altlasten" des Titels vehement bemerkbar. Als Zeitzeugin hat Paretsky sorgfältig recherchiert, den Kalten Krieg, die Geschichte der Raketen-Silos, die heute als Wohnsilos für Apokalyptiker vermarktet werden, Pesterreger, Anthrax. Nicht von ungefähr bildet der Film "The Day After", der in jenem Jahr ausgestrahlt wurde, die historische Folie für die damalige Stimmung im Land: Er spielt das Szenario eines atomaren Weltkriegs durch, sein Hauptschauplatz ist: Lawrence.
Wie ihre Erfinderin ist V. I. Warshawski mit der Zeit gegangen, beherrscht Internet und Datenbankrecherche, findet Abhörgeräte, ermittelt mit Hündin Peppy, fährt Mustang, ist bewaffnet, und legt sich in kürzester Zeit mit der halben Ordnungsmacht und der Armee an. Da bleibt wenig Raum für Privatleben. War sie in ihren Anfängen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften engagiert, gibt es jetzt den Bassisten Jake Thibaut in Vics Leben, der für ein Jahr ein Stipendium in der Schweiz erhalten hat. Seinem Drängen, ihn zu begleiten, hat Victoria eine Abfuhr erteilt: "Was soll ich denn da? Mal eben schnell Deutsch lernen, damit ich anfangen kann, gegen Schweizer Banken wegen Betrugs an Holocaust-Überlebenden zu ermitteln?" Jake quittiert ihre Anrufversuche und Nachrichten mit stetig lauter werdendem Schweigen.
Dass Sara Paretsky am Ende ein Action-Finale draufsetzt, hätte es nicht gebraucht; und überhaupt hätten dem Roman ein paar Kürzungen ganz gut getan. Auch ihrer Kollegin Sue Grafton lief am Ende die Länge aus dem Ruder. Vielleicht ist das eine Gefahr, wenn man Provinzschauplätze wählt - da alle mit allen zusammenhängen, liegt die Gefahr der Verzettelung in Nebensträngen sozusagen vor jeder Haustür. Der Ariadne Verlag kündigt weitere Romane an, und das ist eine gute Nachricht, für alle Sisters in Crime sowieso, aber auch für alle Brothers.
HANNES HINTERMEIER
Sara Paretsky: "Altlasten".
Aus dem Englischen von Laudan und Szelinski.
Argument Verlag, Hamburg 2020.
540 S., geb.
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