Besprechung vom 20.08.2021
Grenzenlos empfänglich
Hier wird gerungen und bezwungen: Horst Bredekamp widmet Michelangelos Leben und Werk eine gewichtige und zudem exzellent bebilderte Darstellung.
Die früheste sicher datierte Darstellung Michelangelos zeigt ihn als Bezwinger des Schicksals. Die Rede ist von einem Holzschnitt in Sigismondo Fantis "Triompho di Fortuna". Dieses 1527 publizierte Orakel- oder Losbuch sollte als eine Art anspruchsvolles Gesellschaftsspiel ermöglichen, mithilfe verschiedener "Spielpläne" Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Unter den berühmten Männern, die an den Seitenrändern der Spielpläne neben den verschiedenen Kreisen des Schicksals dargestellt sind und die offenbar bereits Triumphe über das Schicksal gefeiert haben, finden sich auch Maler, Bildhauer und Architekten. Aber nur Michelangelo ist dort in voller Aktion gezeigt: Mit entblößtem Oberkörper kniet er auf einem Marmorblock. Unter seinen Schlägen entsteht die Liegefigur der "Morgenröte" für die Neue Sakristei in Florenz.
Für die Skulpturen der Medici-Grabkapelle wurde erst ab 1521 der Marmor geliefert. Der Holzschnitt scheint also unter dem Eindruck von Michelangelos aktueller Arbeit entstanden. Andererseits stilisiert bereits diese erste Darstellung den Künstler und will bestimmte Vorstellungen vermitteln: Hier arbeitet ein neuer Pygmalion, dessen Liebe und Hingabe seine Schöpfungen quasi belebt. Und zugleich führt hier ein Mann vor, wie man eine Frau unter Einsatz aller Kraft im eigenen Sinne formt. Ähnlich fordert um dieselbe Zeit Niccolò Machiavelli in ungebremster Misogynie, man müsse Fortuna an den Haaren packen, niederzwingen und schlagen, um Herr seines Schicksals zu werden.
Die Herausforderungen jeder Auseinandersetzung mit Michelangelo zeichnen sich bereits in der Ambivalenz und Mythisierung dieser ersten Darstellung des Künstlers ab. Und sie stellen sich auch noch für die jüngste Monografie Horst Bredekamps. Mit dem über achthundert Seiten starken, reich bebilderten und wunderbar produzierten Buch scheint der Autor in ähnlich heroischer Kraftanstrengung nun den Künstler seinerseits bezwingen zu wollen. Untersucht wird der "ganze Michelangelo", sein Leben und alle Werke, von den Zeichnungen über die Gemälde und Fresken, Skulpturen und Architekturen bis hin zu den Gedichten. Als Leitthemen identifiziert Bredekamp einleitend: "Anmaßung und Demut" in den künstlerischen Projekten; "Geselligkeit", also soziale Netzwerke und Freundschaften des oft als Einzelgänger charakterisierten Künstlers; "Leiblichkeit" und "proteischer Eros", womit Michelangelos Liebe und "schier maßlose[s]" Begehren als treibende Kräfte benannt werden. Dagegen ist über seine tatsächliche Sexualität kaum Sicheres zu sagen. Alles überfängt Michelangelos "Panempathie", seine "Empfänglichkeit, die nicht einzuhegen ist" und die mit einer grenzenlosen Unbedingtheit des Denkens und Wollens einhergeht.
Die folgenden Analysen Bredekamps evozieren ein Bild des Künstlers im Stil des "Triompho di Fortuna". Im dauernden Ringen mit übermenschlichen Aufgaben und Widerständen werden ganz neue Werklösungen erzwungen. Für diese soll Michelangelo die wichtigen Entscheidungen zunehmend selbst getroffen haben: Er bestimmte Aufstellungsort und Thema des Grabmals für Julius II., er verantwortete das Gesamtkonzept und "'schwarze' Geschichtsbild" der Sixtinischen Decke, er konnte durch die "entwaffnende Qualität" der Skulpturen der Neuen Sakristei eine Darstellung von Herrschaft entwerfen, die "in der Negation ihrer selbst ihre höchste, des Nachruhms würdige Bestimmung findet", und so fort.
Die Schrecklichkeit (terribilità) seiner Kunst und das melancholische Leiden an der Welt bleiben die Pole, zwischen denen sich der Mensch Michelangelo bewegt. Dabei sichert ihm sein beständiges Jammern über "die Zeiten, die unserer Kunst sehr entgegenstehen", zwar einen Spitzenplatz in der Geschichte der Künstlerklage. Von außen betrachtet meinte es das Schicksal aber mehr als gut mit ihm: ein langes Leben (von 1475 bis 1564), großer Wohlstand, spektakuläre Aufträge in Fülle, ungeahnte Entscheidungsfreiheiten, mit gut dreißig Jahren der berühmteste Künstler Italiens und bald ganz Europas, mitverantwortlich für ein neues Ansehen von Kunst und Künstlern überhaupt.
Michelangelos kometenhafter Ruhm führte schon zu Lebzeiten zu gleich vier Biografien. Auf die Niederschrift der beiden umfangreichsten von Giorgio Vasari (1550, überarbeitet 1568) und Ascanio Condivi (1553) nahm er in unterschiedlichem Maße selbst Einfluss. Das Ergebnis sind Darstellungen, die seine Vita im Rückblick als konsequente Entwicklung schildern und gerade daraus bis heute ihre Überzeugungskraft schöpfen. Würden diese Texte nicht als Hauptquellen, sondern bereits als Zeugnisse der Rezeption verstanden, ließe sich etwa kaum darüber berichten, dass der junge Michelangelo in Florenz immer frühzeitig an den Mittagstisch seines Patrons, Lorenzo de' Medici, geeilt sei und deshalb in dessen Nähe sitzen durfte.
Bredekamp schreibt das Leben eines Künstlers, der bei aller Panempathie und proteischem Eros von Jugend an konsequent seine einmal gefassten Leitideen weiterentwickelte. Es gibt erstaunlich wenige Unsicherheiten, Zufälle, Inkonsistenzen, vergebliches Suchen und Neuansätze. Am unbestreitbaren Scheitern sind entweder die gigantischen Dimensionen der Projekte oder aber die anderen schuld. Die von Bredekamp entwickelte Konsequenz des künstlerischen Lebenswegs lässt über weite Strecken vergessen, dass etwa die Deutung der Sixtinischen Decke oder der Neuen Sakristei zu den umstrittensten Themen der Kunstgeschichte gehört.
Der Holzschnitt aus dem "Triompho di Fortuna" erinnert aber noch an andere Ambivalenzen: Die "Morgenröte" wurde, wie die gesamte Neue Sakristei, nicht vollendet. Das Non-finito an einigen Stellen steht in größtem Gegensatz zu den final polierten Partien des Körpers. Lässt sich diese Form des Unfertigen in einer Linie verstehen mit der frühen Kentaurenschlacht und den späten Pietà-Projekten? Oder bediente sich Michelangelo je nach Fall unterschiedlicher Konzepte? Die "Morgenröte" und die "Nacht", die beiden Frauenfiguren der Kapelle, wurden jedenfalls als hocherotische Werke wahrgenommen, wie Bredekamp betont. Worin die erotische Attraktion genau bestand, versuchten einige Zeitgenossen so zu erklären: Michelangelo habe zum Weiblichen etwas Männliches gemischt und umgekehrt. Dieses Ideal trifft sicher nicht auf alle Figuren Michelangelos zu. Ja, es wäre zu fragen, inwiefern es wirklich seinen eigenen Intentionen entsprach. Die Aussage erinnert aber daran, wie differenziert und überraschend die Diskussionen allein schon der ästhetischen Kategorien während der langen Lebenszeit Michelangelos waren. Vor dieser Folie entwickelt Bredekamps Buch eine entscheidend neue Deutungsperspektive zwischen Konsequenz, Freiheit und Fragilität.
ULRICH PFISTERER.
Horst Bredekamp: "Michelangelo".
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 816 S., Abb., geb., 89,- Euro (bis zum 31.12.2021), danach
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