Besprechung vom 13.10.2024
Sie nervt, und das ist gut so!
Die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri verknüpft in ihrem neuen Buch "Kalte Füße" Erinnerungen an ihren Vater, der in der Ukraine kämpfte, mit Reflexionen über unsere Gegenwart.
Francesca Melandri wuchs mit zwei Geschichten aus dem Krieg auf. Geschichten ihres Vaters, der auf dem grausamen Russlandfeldzug kalte Füße bekam und sich wohl die Zehen abgefroren hätte, wäre ihm und seinen Kameraden nicht das Glück beschert gewesen, in einem verlassenen Lagerhaus mehrere Paar gefütterte Filzstiefel zu finden, die "Walenki". Diese Stiefel waren die Rettung, genau wie die List seiner Division, der cleveren italienischen Alpini mit den Federn auf dem Kopf (die von den sowjetischen Soldaten deshalb "Hühner-Soldaten" genannt wurden), sich jaulend als Wölfe auszugeben und damit die übermächtige Rote Armee zu verängstigen und in die Flucht zu schlagen.
Vorerst, sollte man sagen. Denn dass die Rote Armee doch irgendwann kam, war ein Detail, das ebenso fehlte wie die Perspektive, dass es ja eigentlich die Italiener waren, die als Alliierte der Deutschen ein anderes Land angegriffen hatten. Und dass dieses Land, in dem Papa da kämpfte, nicht Russland, sondern größtenteils die Ukraine war. Spielen solche historischen Ungenauigkeiten bei der Gutenachtgeschichte für die kleinen Töchter eine Rolle?
In "Kalte Füße", dem neuen Buch der italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri, tun sie das. Als im Februar 2022 Russland in die Ukraine einmarschiert und Melandri all die Namen wieder hört, die sie aus den Geschichten ihres Vaters kennt - Charkiw oder Luhansk -, denkt sie mehr denn je über ihn, den Journalisten Franco Melandri, und seine Rolle in der Vergangenheit nach, liest noch einmal seine drei Bücher und schreibt ein eigenes. "Kalte Füße", dessen Kapitel mit Zitaten aus den Büchern ihres Vaters beginnen, hat eine schwer zu beschreibende Form. Es ist ein Brief an den Vater, ein autobiographischer Essay, der die Erinnerungen Franco Melandris mit denen seiner Tochter verknüpft, aber auch eine Anklage, ein Aufräumen mit den Geschichten aus der Geschichte. Denn Melandri kommt zu dem Schluss, dass die Details aus den Gutenachtgeschichten deshalb wichtig sind, weil sie über familiäre Anekdoten hinausgehen, sich einreihen in das kollektive Gedächtnis Italiens. Eines Landes, dass die eigene Vergangenheit (mithilfe anderer, der Amerikaner zum Beispiel) im Nachhinein ordentlich aufgemöbelt hat.
"Italiani brava gente" ist ein ironischer Ausdruck, der sich auf den in Italien gern verbreiteten Mythos bezieht, eigentlich seien die Italiener doch gut. Eigentlich waren die Italiener keine Antisemiten, das waren nur die Deutschen. Eigentlich waren die italienischen Soldaten, die sich beim "Rückzug aus Russland", wie der Krieg der Italiener in der Ukraine und Russland genannt wird, die Füße abfroren, Opfer Mussolinis. Eigentlich waren die meisten Italiener doch Gegner des Regimes, Partisanen. Ist nicht die ganze italienische Nachkriegsliteratur voll davon?
Melandri ist sehr gut darin, diese Mythen mit wenigen Worten zu dekonstruieren. So schreibt sie über die riesige Zahl angeblicher Widerstandskämpfer: "Man sagt, der Erfolg habe viele Väter; in Italien hatte der Sieg über den Nationalsozialismus vor allem sehr viele Kinder." Oder weist auf die Tatsache hin, dass das Kriegsende in Italien nicht als Tag der Kapitulation, sondern als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus bezeichnet wird, so als hätte es den eigenen Faschismus nie gegeben. Oder dass die Soldaten, die nach ihrer Rückkehr nichts mehr vom faschistischen Regime wissen wollten, "bis dahin Mussolini wie die Lemminge gefolgt waren".
Doch "Kalte Füße" nur als Abrechnung mit Italien zu verstehen, sich als Deutsche erleichtert zurückzulehnen (endlich sind mal die anderen dran!), wäre falsch. Zum einen, weil wir im Privaten genauso ungern zugeben, dass Opa möglicherweise ein Nazi war. Und zum anderen, weil Melandri auch ausführlich vom aktuellen Krieg in der Ukraine schreibt. Vor allem aber, weil das Buch, anhand von sehr konkreten Beispielen, ein allgemeineres Thema adressiert: wie wir, der Westen, Melandris Leserschaft, die Krieg wahrscheinlich meist nur aus dem Fernsehen kennen, lieber an Ideologien glauben als an Einzelfälle, uns eher jahrzehntelang die gleichen Geschichten erzählen, die gleichen Phrasen, anstatt genauer hinzuschauen. Phrasen, die oft Teile dessen verschleiern, was eigentlich passiert ist, denn wer unter schlimmsten Bedingungen seinen "Rückzug aus Russland" angetreten hat, muss irgendwann, nun ja, auch mal hingekommen sein.
In einer Szene des Buches ist Melandri zu einem Abendessen mit Schriftstellern und Journalisten eingeladen und erzählt in dieser Runde von einem Romanprojekt über die italienische Kolonialgeschichte (das 2018 unter dem Titel "Alle, außer mir" bei Wagenbach erschienen ist). Daraufhin schmeißt ein Schriftstellerkollege die Gabel auf den Teller und ruft: "Hör bloß auf, Francesca, nicht schon wieder der blöde Kolonialismus!" Ein Satz, der im Original ("Che ppalle, Francé, ancora co' 'sto colonialismo!") so römisch-rotzig klingt, wie man ihn auf Deutsch, trotz Esther Hansens gelungener Übersetzung, nie formulieren könnte. Außer vielleicht mit den Worten: "Nerv nicht."
Denn Leute wie Francesca Melandri nerven. Sie nerven, weil sie Fragen stellen, weil sie mitunter moralisierend daherkommen und schlechte Stimmung verbreiten. Wer denkt gern darüber nach, was der geliebte Papa gemacht hat? Wer ist gern der Böse? Und überhaupt, was hat der Einzelne denn mit der großen Geschichte (Faschismus, Kolonialismus, et cetera) zu tun? Die Italiener, so jedenfalls sagt ein Journalist des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der am Abendessen teilnimmt, interessiert der Kolonialismus "einen Scheiß". (Eine Prophezeiung, die sich insofern bewahrheitet hat, als Melandris Buch in Deutschland deutlich erfolgreicher war als in Italien.)
Vielleicht interessiert viele Leute der Kolonialismus einen Scheiß, nicht nur, weil die unschönen Seiten der eigenen Geschichte ungern beleuchtet werden. Sondern auch, weil manche Themen mit den immer gleichen Phrasen totgeredet werden, anstatt sie an ganz konkreten Beispielen neu zu erzählen. Dabei stecken hinter Begriffen wie Kolonialismus, Faschismus ja einzelne Menschen, Opfer und Täter. Und was passiert mit denen, wenn die Zeit des jeweiligen "-ismus" vorbei ist? "Kurz gesagt, Papa", schreibt Melandri, "was hast du mit deinem persönlichen Faschismus gemacht, als es mit dem kollektiven Faschismus vorbei war? Hat er in dir überlebt wie ein Virus, das sich versteckt und von einem Moment auf den anderen deine Nervenbahnen zerstören kann? Oder ist er verschwunden wie ein böser Infekt, besiegt von den weißen Blutkörperchen aus persönlichen wie kollektiven Tragödien?"
Und so betreibt die Autorin anhand der Geschichte ihres Vaters und der aktuellen Debatten über den Krieg in der Ukraine eine Art Rhetorik- und Ideologiekritik, in der sie Sätze und Denkweisen, die den Diskurs prägen, auseinandernimmt. Manche dieser Äußerungen ("Für den Frieden!"), die man sich nur erlauben kann, wenn man den Krieg nicht dummerweise vor der Haustür hat, verfangen bekanntermaßen auch bei uns. Andere haben eine engere Verbindung zu Italien. So ist ein "-ismus", den Melandri (neben dem offensichtlichen, dem Faschismus) adressiert, der Kommunismus, der in Italien, wo es einmal die größte kommunistische Partei des Westens gab, eine andere Rolle einnimmt als hier. Dort umgibt den Partito Comunista Italiano, der nie an der Regierung war und lange Zeit den ungeheuer beliebten Parteivorsitzenden Enrico Berlinguer hatte, noch immer ein positiver Nimbus. Aufgrund dieser Prägung meint der Begriff "Imperialismus" für die italienische Linke (und nicht nur für sie) vor allem die USA, schreibt Melandri, während ausgeblendet werde, dass auch ein anderes Imperium stets versuchte, seine Macht auszuweiten.
Diese Denkweise zeigt sich an einer besonders erschreckenden Stelle des Buchs. Da zitiert die Autorin einen bekannten italienischen Intellektuellen, der nicht nur die Schuld am russischen Angriffskrieg der NATO und der Ukraine zuschiebt, sondern noch hinzufügt, dass ihn allein das große geopolitische Spiel interessiere und nicht - jetzt kommt tatsächlich ein wörtliches Zitat - die Erfahrungen von "irgendwelchen Irynas" und ihren Kindern. Diesen Irynas hat die Autorin ihr Buch gewidmet.
Melandri ist parteiisch. Man merkt das schon an der Tatsache, wie oft sie deutlich macht, dass die Ukraine häufig fälschlicherweise Russland genannt wurde. Es ist verständlich, warum sie das tut, aber eine Schwachstelle ist es doch, dass Melandri, die sich im Rest des Buchs scheut, einfach große Begriffe zu verwenden, sie in Bezug auf die Ukraine offenbar für völlig unproblematisch hält. "In der Ukraine sind die Begriffe Vaterland, Nation, Ehre, Opfermut, Heldentum und auch Ruhm nicht veraltet. Dort sind es junge Worte, sie künden von Zukunft und Demokratie." Wer diese Meinung nicht teilt, hat laut Melandri keine Ahnung. Dabei ist es durchaus möglich, auf der Seite der Ukraine zu stehen, ohne sie zu überhöhen. Diese Einseitigkeit ist deshalb überraschend, weil Melandri sonst, etwa in Bezug auf ihren Vater, so differenziert ist. Obwohl sie seiner Vergangenheit rigoros auf den Grund geht, seine Taten klar benennt, urteilt sie nicht harsch: "Schließlich bin ich nur deine Tochter, nicht dein Richter oder der Anwalt der Verteidigung." In ihrem Brief steckt nicht nur Anklage, sondern auch Liebe, manchmal sogar Verständnis für den Vater, der seine tatsächlichen Erfahrungen mit seinen Kindern allein deshalb nicht teilen konnte, weil wer im Frieden lebt, keine Ahnung vom Krieg hat.
Francesca Melandri hat bisher nur Romane veröffentlicht. Dass dieses Buch etwas anderes geworden ist, passt zu einem Satz, den sie auf Schriftsteller in der Ukraine und deren Gedichte, Tagebücher und Reportagen bezieht: "Denn alles hat seine Zeit, es gibt eine Zeit, Zeugnis abzulegen, und eine Zeit, Geschichten zu erfinden." Sie legt im strengen Sinne kein Zeugnis ab, schließlich lebt sie nicht im Krieg. Trotzdem hat man den Eindruck, dass sie einen Roman nicht hätte schreiben können, spricht aus ihrem Buch doch eine so große Dringlichkeit, eine Aufforderung, hinzusehen, die eigenen Überzeugungen zu prüfen, zu versuchen, auch wenn es plakativ klingt, menschlich zu sein. Wie gut, denkt man beim Lesen oft, dass es Leute wie Melandri gibt, die schon wieder mit den alten Themen anfangen, wie gut, dass es Leute gibt, die nerven.
ANNA VOLLMER
Francesca Melandri: "Kalte Füße". Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach, 288 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.