Besprechung vom 12.10.2024
Die Geburt des Protestsongs aus dem Geiste der Isaak-Geschichte
Schamane der Popmusik: Caspar Battegay deutet Songs von Leonard Cohen und setzt sich eingehend mit dessen Stimme auseinander. In ihr vereinten sich Zynismus und Hoffnung, Zerbrechlichkeit und utopische Kraft.
Nicht nur Verehrer des Dichters, Sängers und Stars Leonard Cohen werden sich angesprochen fühlen von dieser Abhandlung über dessen Stimme. Denn der Autor Caspar Battegay will nicht nur auf das bloße Timbre oder den Sound hinaus; vielmehr spannt er mit seiner Argumentation einen weiten Bogen: "Vielleicht sind Klang, Sprachfarbe oder Intonation verwandte Begriffe, in jedem Fall besitzt eine solche ,eigene Stimme' etwas, das die Bedeutung der gesungenen Wörter erweitert und übersteigt. Mit diesem Etwas eignet sich die Stimme die Melodie einer Komposition an und macht diese zu etwas Individuellem, das wir dann mit schwer fassbaren Wörtern wie ,Charakter', ,Persönlichkeit' oder ,Authentizität' zu beschreiben suchen."
Cohen wurde 1934 in Montreal in eine wohlhabende jüdische Familie geboren, der früh gestorbene Vater war Kaufmann, der Großvater der aus Russland immigrierten Mutter war Rabbiner, der Großvater väterlicherseits lange Präsident der Montrealer Shaar-Hashomayim-Synagoge. In Cohens jüdischer Herkunft erkennt Battegay ein zentrales, nie abwesendes Moment seines Werks, das er im Buch einprägsam herausarbeitet. Dabei ist Cohens Jüdischsein kein affirmativer, sondern ein ständig befragter, von Zweifeln durchdrungener, immer wieder in Selbstironie bis hin zum Sarkasmus gebrochener Glaube, dem er zeit seines Lebens treu geblieben ist.
Hinzu kommt seine Auseinandersetzung mit dem Christentum, vor allem in der Person von Jesus. Schon im Song "Suzanne" begegnen wir Jesus, veröffentlicht 1967 auf seinem ersten Album "Songs of Leonard Cohen": "And you want to travel with him, and you want to travel blind / And then you think maybe you'll trust him / For he's touched your perfect body with his mind". Oder nehmen wir den christlichen Gott fünf Jahre später in "Joan of Arc", einer mystischen Vermählung der Jeanne d'Arc mit dem Feuer ihres Scheiterhaufens. Die Flamme, das Licht als göttliches Signum, ist ein lodernder Kern von Cohens Lyrics.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Battegay, Jahrgang 1978, wählt einen akademischen, dabei keineswegs kühlen Weg, sich Cohens Stimme zu nähern. Er sondiert zunächst unterschiedliche Facetten des Phänomens: die "Stimme als Inspiration" (hierher gehört das Zitat aus "Tower of Song" von 1988: "I was born like this, I had no choice / I was born with the gift of a golden voice"), die "Stimme als Erinnerung", weil ein Song eine Zeitmaschine sei, durch die wir die Vergangenheit immer wieder erinnern und neu erleben können, schließlich noch "Stimme und Gemeinschaft" - inklusive der "utopischen Kraft", die Cohens Stimme zu vermitteln versuche.
Battegay lässt luzide Deutungen einzelner Lieder folgen und kombiniert dabei Elemente des Close Reading mit materialistischen Analysen im Zeichen avancierter Kulturtheorie. Hermeneutische Verrenkung hingegen spart er sich, dafür bezieht er sich, wie Cohen selbst, immer wieder auf die Bibel. Eindrucksvoll ist die Analyse von "Story of Isaac": "Die Stimme befiehlt Abraham die Opferung seines Sohnes Isaak. Abraham holt schon mit dem Messer aus, als ein Engel erscheint und den Vater zurückhält. In Leonard Cohens frühem Song ,Story of Isaac', aus seinem zweiten Album ,Songs from a Room' (1969), ist es aber nicht der Engel, sondern der Sohn, der seine Stimme erhebt und protestiert. Er protestiert nicht nur gegen diesen spezifischen Patriarchen, sondern gegen alle möglichen Autoritäten, die ihre Kinder für einen höheren Zweck opfern wollen." Der Hörer komme, kurz gesagt, also zur Einsicht, "dass man seine eigene ,Stimme' erheben kann, um sich einem Befehl zu widersetzen und die Wirklichkeit und die Gesellschaft zu ändern. Dies ist die Grundlage aller politischen Kunst, in diesem Fall in der Form des Protestsongs." Es handelt sich hier also um die Geburt des Protestsongs aus dem Geiste von Genesis 22 - mit der "Bindung Isaaks", einer der "Grunderzählungen der monotheistischen Religionen", als Folie. Auch das ist ein Vermächtnis Cohens.
In seinen Versen spielt Cohen, bei aller Spiritualität, laufend mit Selbstbezüglichkeit, am liebsten, wo es um Sex (nicht zu verwechseln mit Sexualität) geht. Gottes- und Frauenliebe kommen da zusammen, autofiktional und meistens gebrochen durch Melancholie oder Ironie. Das geschieht vom Anfang seiner Karriere als Sänger an (zuvor auch schon als Literat), dann auch im unverwüstlichen "Hallelujah", das 1984 auf dem Album "Various Positions" erschien. Cohens selbst gewählte Rolle als ein "Ladies' Man" hat nicht zuletzt zu seiner einschlägigen Wirkung, zumal auf der Bühne, beigetragen, nicht zufällig oft von weiblichen Stimmen begleitet. Battegay bezeichnet ihn als "Schamanen der Popmusik".
Zugleich muss sich das überhaupt nicht beißen mit der Einschätzung, Cohen sei immer mehr zum "Propheten" geworden, spätestens mit dem Album "The Future" von 1992. Und zwar wohlgemerkt nicht, "weil er die Zukunft prognostizieren könnte, sondern weil er eine alternative Sicht auf die Geschichte ermöglicht. Diese Gegenerzählung beruht auf der marginalisierten jüdischen Perspektive, auf der damit erfundenen Erfahrung und Tradition sowie der jüdischen Mystik. Getragen wird diese Perspektive von Cohens Stimme, die sowohl durch einen dunklen Zynismus gefärbt ist, als auch von Hoffnung kündet." Keinen "Erlösungshorizont" erkennt Battegay darin, sondern den "Kontext der Spätmoderne und ihrer Krisenwahrnehmung".
Dieser Sound des Propheten, im Besitz seiner poetischen Wucht, Zerbrechlichkeit und Demut, trägt Cohens letztes Studioalbum vom Oktober 2016, "You Want It Darker". Er scheint dort direkt mit seinem Gott zu verhandeln, bis zum Schluss: "If you are the dealer / I'm out of the game / If you are the healer / I'm broken and lame / If thine is the glory / Then mine must be the shame / You want it darker / We kill the flame". Das "Hallelujah" und die Flammen der Joan of Arc kehren wieder, wo einst "the blaze of light in every word" loderte, wo die Vereinigung im Feuer geschah, steht nun: "I'm ready, my Lord." Der Männerchor der Synagoge seiner kanadischen Geburtsstadt begleitet das. Am 7. November 2016 ist Leonard Cohen in Los Angeles gestorben.
Caspar Battegay ist ein hingebungsvoller Fan und versteht es, diese Leidenschaft in seinem Buch zu kanalisieren. Damit liefert er ein Musterbeispiel dafür, was inspirierte, kulturwissenschaftlich untermauerte Lektüre zu leisten imstande ist. Wer das Privileg hatte, Leonard Cohen im Laufe von drei Jahrzehnten mehrmals live zu erleben (wie die Verfasserin dieser Rezension), wird weder die Stimme des "Godfather of Song" in all ihren Ausdrucksformen und Beschwörungsritualen noch die unmittelbare Ausstrahlung seiner Erscheinung jemals vergessen. ROSE-MARIA GROPP
Caspar Battegay: "Leonard Cohens Stimme".
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
160 S., Abb., geb.,
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