Besprechung vom 03.03.2022
Toleranz im Wachstum
Kim Hye-jin über eine Frauenwohngemeinschaft
Die 1983 geborene Schriftstellerin Kim Hye-jin ist eine stilistisch brillante Chronistin koreanischer Widersprüche. Ihr im Original 2017 erschienener Roman "Die Tochter" ist zugleich leises Kammerspiel einer Mutter-Tochter-Beziehung und schillernder Gesellschaftsspiegel. Eine in einem Pflegeheim tätige Mutter, ihre Tochter, eine Lehrbeauftragte, und deren jobbende Liebhaberin führen aus Kostengründen im Haus der Mutter eine Wohngemeinschaft: "Die Tochter" ist ein kluger Roman über den Clash von Lebenswelten, Seinsentwürfen und Traditionsbeständen verschiedener Generationen im heutigen Südkorea.
Eine unsichtbare Mauer zwischen Mutter und Tochter und der wirksame Bannkreis der Konvention prägen die Erzählung. Da im konfuzianisch und patriarchalisch geprägten Korea die Toleranz gegenüber Homosexualität hochschwellig ist, ist für belletristischen Zündstoff gesorgt. Das Buch ist aus Sicht der konservativen Mutter verfasst: Scham, Schuldgefühlen darüber, die Tochter falsch erzogen zu haben, oder gar dem schamanistischen Gedanken, dass "etwas Verqueres von mir auf meine Tochter übergegangen" ist, stehen Mutterliebe und die Suche nach einem Standpunkt im von kollektiver Agrarwirtschaft zur pluralistischen Industriegesellschaft gewandelten Korea gegenüber.
Es handelt sich um zwei parallel erzählte Ungerechtigkeitsgeschichten als Notstandsstudien der Jugend und des Alters: Zum einen wären da lebensgefährliche, von aggressiven Gegendemonstrationen begleitete Aktivitäten der Tochter Green und ihrer Freundin Rain, die am Campus mit einer Gruppe von Freunden gegen die Entlassung homosexueller Kollegen von Green protestieren. Zum anderen erzählt der Roman über das Problem der Pflege als Folge des bröckelnden konfuzianischen Generationenvertrags. Die Mutter als mitfühlende Pflegerin ist mit den Folgen konfrontiert. Kippbildern der aging society wie etwa Menschen in Fixiergurten oder ein dementer einstiger Sänger einer Volkstanzgruppe, der Heimmitarbeiter bittet, ihn für die Bühne zu schminken, stehen Jugendwahn und Vorstellungen vom survival of the fittest gegenüber: "Aus dem Spiel, in dem jeder rennt und springt und sich die Anstrengungen, mitzuhalten, aufschaukeln, bin ich schon längst ausgeschieden."
Als die Mutter die Campus-Aktionen der Tochter und deren Mitstreiter beobachten will, gerät sie in die Zwickmühle und ins Zentrum des Geschehens homophober Übergriffe: Während sie nicht mehr "die Haltung der Gegenseite" vertreten kann, aber weiterhin "diese Kinder" nicht von Grund auf versteht, beginnt sich eine "verschlossene Tür in meinem Inneren" zu öffnen. Aufgewachsen unter autoritären Regimes und in einer "Kultur, in der man höflich die Augen verschließt", stellt sich die Mutter die Gretchenfrage: "Warum liebt meine Tochter Frauen?"
Sie lernt, wie ein neutraler Reporter "ohne Erwartungen, ohne Hintergedanken oder Furcht" Fragen zu stellen, um ihre Tochter zu enträtseln. Die Frage, ob es sich bei der lesbischen Liebe um einen reparablen Irrtum oder ein Missverständnis zwischen unwissenden Mädchen handele, weicht der Erkenntnis, dass die jungen Frauen mitten im Leben stehen, "doch im Gegensatz zu uns stehen sie mitten in einem furchteinflößenden, unbarmherzigen Leben".
Eine besondere Beziehung im Pflegeheim unterhält die Mutter zu der bettlägerigen kinderlosen Patientin Tsen, die sich in den USA für "Grenzkinder" wie Adoptivkinder und Migranten eingesetzt hat. Als die Belegschaft angewiesen wird, Pflegematerial zu rationieren, entdeckt auch die Mutter ihren Widerstandsgeist. Subtil verknüpft Kim Erzählstränge und Lebenswelten der unterschiedlichen Generationen im Gesellschaftsspiel Koreas. So finden Aktivistentreffen in der Küche der Mutter statt, und als Tsen in eine Demenzeinrichtung verlegt wird, bettet die Mutter sie zuletzt in ihr Haus um: Sie will der betagten Dame deren letzte Tage verschönern, aber auch ihren Mitbewohnerinnen Einblicke ins Alter als Lebensphase geben.
Die so entstandene Patchworkfamilie - mit Rain, die Green "mitbrachte", und Tsen, die die Mutter einführte - bedeutet für Mutter wie Kind Lernprozesse. Auf der späteren Trauerfeier für die couragierte Tsen, die als letztes Geschenk der Wohngemeinschaft Frieden und Waffenstillstand ermöglicht hat, deutet sich ein mütterliches Ringen ums Verstehen an: Vielleicht liegt "ein Leben voll von endlosen Kämpfen und dem ewigen Bemühen um mehr Toleranz vor mir". Im offenen Ende dieses mutigen philosophischen Generationenromans über koreanische Frauen zwischen Tradition und Wertewandel nimmt sich die Heldin immerhin vor, die Energie aufzubringen, um ein solches Leben in kleinen Schritten anzugehen. STEFFEN GNAM
Kim Hye-jin: "Die Tochter". Roman.
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2022. 176 S., geb.
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