Besprechung vom 26.08.2021
Sodbrennen in den Augen
Vielleicht ist "Mutter Erde" genau das richtige Buch für die Zeiten der Pandemie. Eher Reiseersatz als Reiseanregung. Und vielleicht sogar Mahnung, zu Hause zu bleiben, statt sich einzubilden, in der Ferne Sehnsüchte erfüllen zu können. Ein wenig kommt das Buch daher wie ein Gottesdienst. Amen möchte man sagen, wenn man es zugeschlagen hat. Denn "Mutter Erde" ist ein kiloschwerer Band, für den der Fotograf Marsel van Oosten "Die Schönheit unserer Erde" nicht einfach dokumentiert hat, sondern sie regelrecht zelebriert mit allem, was ihm die Fototechnik dazu an Möglichkeiten an die Hand gibt - vom extremen Weitwinkelobjektiv, wodurch sich Landschaften in einer Weise öffnen, dass sich der Betrachter regelrecht hineingesaugt fühlt, bis zum extremen Tele, wodurch er einem herannahenden Tiger so direkt in die Augen schauen kann, dass man sich wundert, den Fotografen nicht als Spiegelung auf dessen Netzhaut zu sehen. Und dann erst die Farben! Milchiges Licht über der Savanne. Sonnenstrahlen, die im Dunkel des Dschungels wie Suchscheinwerfer kleine Äffchen hervorholen. Quietschbunte Töne am Abendhimmel. Nashörner stehen wie Skulpturen ihrer selbst unter dem gleißenden Sternenzelt an einem Wasserloch. Oder es dreht sich das ganze Firmament in einer Langzeitbelichtung um Baumskelette in Namibia. Es kann einem ganz schummrig werden vor so viel Schönheit, von der Marsel van Oosten freimütig bekennt, dass sie nicht allein seinem Auge und dem Glück des Moments geschuldet ist, wenn er sich mit einem Koch vergleicht: In der Fotografie, erklärt er in einem den Bildern vorangestellten Interview, sei Photoshop das Äquivalent von Gewürzen. Und damit hält er sich nicht zurück, sondern greift beherzt zu. Wobei ihm das Süße näherliegt als das Scharfe - woran es liegen mag, dass man bald so etwas wie Sodbrennen in den Augen spürt. Dabei weiß Marsel van Oosten durchaus um die Probleme, denen unser Planet ausgesetzt ist. Und hofft umso mehr, dass ebendieses Buch, für das er seine schönsten Motive aus den vergangenen fünfzehn Jahren zusammengetragen hat, seinen Beitrag leistet, uns Menschen die Natur wieder näherzubringen. Instinktiv beschütze man ja das, was einem nahesteht, sagt van Oosten. Und richtet sich womöglich deshalb erst gar nicht an den Verstand seiner Leser und der Betrachter seiner Fotografien, sondern nur an deren Herz. F.L.
"Mutter Erde - Die Schönheit unserer Erde" von Marsel van Oosten. teNeues Verlag, Augsburg 2021. 320 Seiten, etwa 240 Farbfotografien. Gebunden
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