Besprechung vom 27.06.2023
Was nicht wahr ist, stimmt trotzdem
RHEIN-MAIN Michel Bergmann und sein autobiographischer Roman "Mameleben"
Hätte Michel Bergmanns Mutter Lotte den jüngst bei Diogenes erschienenen autobiographischen Roman "Mameleben oder das gestohlene Glück" über die toxische Liebe zwischen ihr und ihrem Sohn noch lesen können, hätte sie den Filius gewiss wütend aus Straßburg angerufen und gezetert: "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich lieber nicht überlebt." Solche und ähnliche Sätze hat der in Basel geborene und in Frankfurt aufgewachsene Autor von seiner Mutter sein Leben lang an den Kopf geworfen bekommen - schon bei minder schweren Differenzen.
Die fordernde, die unerbittliche Liebe seiner Mutter sei, so sagt Bergmann, die Ursache für dieses Buch über eine jüdische Mamme gewesen, deren erste erwachsene Jahre aus Flucht vor den Nazis, aus Verstecken und Todesangst bestanden. Auch die zweite Hälfte ihres Lebens, die nach dem Krieg in Frankfurt spielte, wo ihr Mann das arisierte Wäschegeschäft wiederaufbaute, war nicht von strahlendem Glück gesegnet. Denn Michel Bergmanns Vater starb viel zu früh, und seine schöne Witwe musste das Geschäft in die Hand nehmen, was sie hart machte und misstrauisch gegenüber allen und allem. Ihr zweiter Mann, auch ein Überlebender, aber ein geiziger, grober Klotz, war ein Fehlgriff, und als auch er starb, lebte sie allein in Straßburg und konnte an ihrer Umwelt nichts Gutes mehr finden. Ganz folgerichtig endet ihr Leben in einem Drama.
Ihr Sohn Michel Bergmann, den sie mit ihrer Mutterliebe nicht selten terrorisierte, hat aus dem Drama ihres Lebens an vielen Stellen eine Komödie gemacht, erbaut auf der klassischen jüdischen Tugend der Selbstironie, die selbst aus der schlimmsten Situation noch einen Funken Witz zu schlagen vermag. Diese hohe Kunst hat der Autor schon vor einem Jahrzehnt in seinen beiden autobiographisch angehauchten Romanen "Die Teilacher" und "Machloikes" unter Beweis gestellt. Sie zählen zum Besten, was die jüngere jüdische Literatur in Deutschland hervorgebracht hat, und müssten eigentlich Kandidaten für die Reihe "Frankfurt liest ein Buch" sein.
In diesen beiden Bänden hat Bergmann von der Frankfurter Nachkriegszeit erzählt, vom chaotischen Leben im DP-Lager Zeilsheim, von den schlitzohrigen Teilachern des Wäschegeschäftes Bergmann, die mit dem Auto in die Vorstädte und Dörfer fahren und den Leuten Bettwäsche und Aussteuerutensilien andrehen. In "Mameleben" beschreibt der Autor diese Welt nicht mehr aus einer eher neutralen Perspektive, sondern erzählt in der Ichform eine Geschichte, die, wie er sagt, wahr ist und in der das, was nicht ganz wahr ist, trotzdem stimmt.
Sie lebt stark von spritzigen Dialogen. Daran merkt man, dass Bergmann vom Film kommt, für den er sein halbes Leben lang vor allem als Drehbuchautor gearbeitet hat. In dieser Branche hat er Timing gelernt und Pointen, die sitzen. Selbst seine gestrenge Mutter, in deren Augen er nie etwas richtig machte, hätte gewiss an der einen oder anderen Stelle aufgelacht. Und am Ende vielleicht sogar zugegeben, dass "Mameleben" eine große Liebeserklärung an sie ist, obwohl sie darin scheinbar so schlecht wegkommt. Für den Leser hingegen ist das Buch ein einziges Vergnügen. Bleibt nur die Frage, warum Bergmann sich nicht schon viel früher aufs Schreiben konzentriert hat. HANS RIEBSAMEN
Michel Bergmann
30. Juni, 19.30 Uhr, Burggarten der Burg Sonnenberg, Talstraße 5, Wiesbaden: Michel Bergmann liest aus seinem Krimi "Du sollst nicht begehren".
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