In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass im Osten der Ukraine findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.
Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn "geparkt" hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
Besprechung vom 10.03.2018
Die bitteren Tränen der Männer
Wie höfliche Soldaten die Ostukraine in eine Hölle verwandelten: Serhij Zhadans Kriegsroman "Internat" ist eine hoffnungsvolle Klage.
Von Kerstin Holm
Mit seinem unerklärten Krieg in der Ostukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin einen Grenzgraben in Europa aufgerissen, der das Schwinden seiner Einflusssphäre stoppen soll. Dadurch entstanden die von Russland militärlogistisch kontrollierten und alimentierten Volksrepubliken von Donezk und Lugansk, in denen jede Rechtsordnung zusammengebrochen ist, weshalb die wohlhabenderen Schichten aus ihnen geflohen sind, während die Zurückgebliebenen versuchen, auf unterster Zivilisationsstufe über die Runden zu kommen.
Anlass für den Krieg war der politische Westkurs der Ukraine, was sich außer in der politischen EU-Ausrichtung in der Durchsetzung des Ukrainischen als Staatssprache niederschlug, wogegen im traditionell russischsprachigen Ostteil des Landes viele rebellierten. Die Katastrophe, die mit der Okkupation über diese Regionen hereinbrach, hat am wahrhaftigsten Serhij Zhadan geschildert, der ostukrainische Lyriker und Prosaschriftsteller, der Ukrainisch schreibt, für die demokratische Maidan-Revolution kämpfte, aber immer auch das Gespräch mit Parteigängern der "Volksrepubliken" suchte und als Literat sogar ihre Perspektive einnehmen konnte. Zhadans neuer Roman mit dem Titel "Internat", den Juri Durkot und Sabine Stöhr vorzüglich übersetzt haben, schildert die Verwandlung einer ostukrainischen Stadt, in der man aufgrund der geschilderten Truppenbewegungen Lugansk zu erkennen meint, zum Kriegsgebiet. In dieser Gegend wurde der Autor geboren. Sein Held, ein Ukrainischlehrer, erlebt, wie der urbane Organismus unter Trümmern begraben und sein Unterrichtsfach überflüssig wird.
Das Buch ist ein monumentaler, dabei ganz unsentimentaler Klagegesang auf die Opfer des Konflikts, von denen viele anfangs mit den Invasoren sympathisiert haben dürften. Der Lehrer gehört zum ukrainisch patriotischen Bevölkerungsteil, der keine Möglichkeit hat zu fliehen. Der sensible Mann lebt mit seiner berufstätigen Schwester, nachdem beider Beziehungen zerbrochen sind, beim alten Vater. Er ignoriert die täglichen Schreckensnachrichten. Deswegen ist es, als er sich entschließt, den im Internat am anderen Ende der Stadt "geparkten" Sohn der Schwester dort herauszuholen, fast zu spät. Die ukrainische Armee, für deren Verwundete noch vor einer Woche in der Schule ein Lazarett eingerichtet wurde, ist abgezogen, und die Besatzer, die bei Zhadan nur die "Neuen" heißen, übernehmen die Schaltstellen. Zum Beispiel den Bahnhof, von dem keine Züge mehr fahren, wo sich aber Frauen mit Kindern und mehr oder weniger spärlicher Habe drängen und irgendwohin wollen. Mit einem Schlepper, der einige von ihnen an der Feuerlinie vorbeiführt, gelangt der Lehrer nach einer Odyssee durch die schrecklich entstellte Stadt zum halbzerstörten Schulwohnheim und findet seinen vernachlässigten und daher umso rebellischeren Neffen.
In finster majestätischen Bildern beschwört Zhadan eine apokalyptische Winterlandschaft, weiße Nebel und schwarzer Qualm verlaufen ineinander wie in einem abstrakt expressionistischen Gemälde. Flüchtlingstrecks irren durch die von brennenden Wohnhäusern erleuchtete Nacht. Panische Frauen fahnden nach einem Dieb und fallen über den Helden her. Auf den von Granaten zerklüfteten Straßen liegen verendete Tiere, doch aus Angst vor Beschuss - der von der russischen wie von der ukrainischen Seite kommt - bewegen sich die verbliebenen Taxifahrer nur mit Vollgas. Die neuen Herren sind die russischen Freischärler und ihre örtlichen Kampfgenossen. Rückblenden vergegenwärtigen, wie die Invasoren, als sie vor Monaten frisch eingetroffen waren, sich - wie jene höflichen Leute in Grün, die die Krim besetzten - betont höflich und zuvorkommend gegenüber der lokalen Bevölkerung verhielten. Verroht und überfordert wittern die Bewaffneten jetzt in Zivilisten wie dem Lehrer vor allem mögliche Verräter und werden für sie lebensgefährlich.
In knappen, prägnanten Strichen skizziert der Roman aber auch das der Verrohung entgegentretende Verantwortungsgefühl gar nicht so weniger Einzelner. In einem Schutzkeller nimmt sich eine Frau spontan eines alten Mannes an, der nicht mehr weiter kann. Die Internatsdirektorin harrt praktisch allein bei ihren Schützlingen aus und tritt mit bloßen Händen Bewaffneten entgegen, die die ukrainische Fahne vom Gebäude herunterreißen wollen. Und der schüchterne Lehrer mausert sich zum starken Beschützer. Er führt die vom Schlepper verlassenen Frauen weiter, bringt das Militärkommando dazu, Flüchtlinge zu verpflegen, und versucht tapfer, bei einem Verwundetentransport fehlende Krankenpfleger zu ersetzen.
Zhadan schreibt ein subtiles Drama der Sprache. Die Invasoren sprechen Russisch, aber mit einem fremden Akzent, der bald kaukasisch, bald irgendwie künstlich, bald einfach nur offiziös klingt. Der offenbar prorussische Sportlehrer des Internats, der von seiner Kindheit unter der Sowjetmacht schwärmt, macht ihn sich zu eigen. Ukrainischunterricht war bisher für aufstiegswillige Schüler wichtig, weil man in Kiew die Staatssprache beherrschen muss. Unter den Besatzern wird es zu einer toten Sprache, einer Art Latein, wie sich ein russischer Kriegsreporter ausdrückt. Dabei kämpft die lokale Bevölkerung auf beiden Seiten. Ein früherer schlechter Ukrainischschüler, der sich den Besatzern angeschlossen hat, schützt den Lehrer vor seinen neuen Kameraden. Ein alter Soldat, der die regionale ukrainisch-russische Mischsprache Surschyk spricht, dient bei der erschöpften ukrainischen Armee, die von weinenden Frauen versorgt wird.
Dennoch endet das Buch, das seine Figuren in drei Tagen durch die an ihrem Wohnort ausgebrochene Hölle wandern lässt, beinahe optimistisch. Denn auch der halbwüchsige Neffe, der sich im Internat einschließt, Mädchen erschrickt und auf Erwachsene gereizt reagiert, wird angesichts der Katastrophe auf einen Schlag erwachsen. Die neu erwachten Qualitäten seines Onkels, Verantwortungsbewusstsein und Mut geben dem Problemjungen, was er nie hatte: ein männliches Vorbild. Gegenüber einem russischen Militär, der beide aushorchen will, erfindet er einen Vater, der beim Panzergefecht umkam. Der Internatsdirektorin schickt er eine SMS, sie solle sich keine Sorgen machen. Und er übernimmt die stille Verachtung des armen Lehrers für die gut verpflegten Okkupanten mit ihren Kalaschnikows, die, wie er weiß, wegfahren werden - vielleicht nach Syrien? - und sich, auch wenn sie sich manchmal anbiedern, für die Leute, die hier leben, überhaupt nicht interessieren.
Serhij Zhadan: "Internat". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 300 S., geb.
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