Besprechung vom 27.07.2024
Wo die Himmel Krallen haben
Von Apulien nach Berlin: In seinem Roman "Spatriati" nähert sich Mario Desiati dem deutschen Glücksort junger Italiener.
Wieso bist du nicht so wie die anderen?" Das wurde sie von ihren Mitschülern gefragt. Claudia war die Größte an der Schule, hatte rote Haare, mondweiße Haut, eine prominente Nase, spitze Wangenknochen, ein langes und schmales Gesicht. Francesco fand sie anziehend: "Sie wirkte, als sei sie aus einer anderen Welt, einer fortschrittlicheren und aufgeklärteren, hier hingebeamt worden." Wenn Claudia zur Schule kam, "hörte sie Musik mit Kopfhörern, alle anderen waren ihr egal". Deren drängende Fragen ließ sie abprallen: "Es ist schon schwer genug, so wie ich zu sein, wie sollte ich da auch noch wie die anderen sein."
"Anders": Das Wort durchzieht den Roman "Spatriati" von Mario Desiati geradezu leitmotivisch. Der Titel ist ein Synonym dafür. Francesco, zunächst der Icherzähler, erklärt dessen Bedeutungen gleich am Anfang, als er Claudia auf dem humanistischen Gymnasium in Martina Franca, einer Kleinstadt in Apulien, kennenlernt: eine "spatriata, wie man hier die Unbestimmten nennt, die aus der Art Schlagenden, die, die sich nicht einordnen lassen, manchmal auch die Spinner oder die Waisen, die Alleinstehenden, die Unverheirateten, die Landstreicher und Vagabunden, oder vielleicht, wie in unserem Fall, die Befreiten". Anders-Sein heißt auch, dass Claudia manchmal Männerkleidung trägt, dass Francesco sich heimlich schminkt, dass er ein Faible für Priesterröcke und der missglückte Kuss mit einem Messdiener ihn aufgewühlt hat.
Ein ungleiches Paar, das nie wirklich zusammenkommt in den 25 Jahren, über die sich die Handlung erstreckt. Unkonventionell auch darin, dass sie die aktivere, mutigere, selbstbewusstere und ihm immer zwei Schritte voraus ist: Francesco, unsicher, ängstlich und religiös, ist der Sohn von Vincenzo Veleno, einem draufgängerischen Sportlehrer, der mit einer ungeladenen Beretta M 9 herumläuft, und der Krankenschwester Elisa Fortuna; Claudia ist die Tochter von Enrico Fanelli, Chirurg am örtlichen Krankenhaus, und Etta Bianchi, Bauernadel mit altmodischen Ansichten. Kaum sind sich die beiden begegnet, sind sie, ganz ohne eigenes Zutun, bereits verbunden. Denn Elisa hat Vincenzo für Enrico verlassen, der Arzt ein Verhältnis mit der Krankenschwester: "Wir sind Geschwister", stichelt Claudia; "ich will aber nicht dein Bruder sein", wehrt sich Francesco.
Die Differenz begleitet sie: Francesco hofiert sie still und himmelt sie an, Claudia vertraut sich ihm an und hält ihn auf Abstand. Sie probiert sich aus, hat Beziehungen, macht Erfahrungen, er ist eifersüchtig, leidet und wartet darauf, dass sie seine Liebe erwidert. Vergeblich. Claudia "kann hier nicht bleiben", Francesco "will hier aber nicht weg". Das vorletzte Schuljahr verbringt sie in London, und nach dem Abitur geht sie an die Elite-Universität in Mailand, "einer Stadt, die für uns im Süden das Mekka des Wohlstands und der Weltläufigkeit war". Doch statt Medizin oder Literaturwissenschaft studiert sie Betriebswirtschaft, denn sie will sich beweisen, Sprachen lernen, Geld verdienen, unabhängig sein. Er besucht die Universität im nahen Bari, treibt sich auf Partys herum und hört Vorlesungen des Soziologen Franco Cassano: "Ich liebte sein 'Il pensiero meridiano' (Das Denken des Südens)", eine 1996 erschienene Streitschrift für eine südliche Identität des Mittelmeerraums und eine Kultur der Langsamkeit, des Dialogs und politischen Kompromisses.
Mario Desiati, geboren 1977 in Apulien und studierter Jurist, hat den Roman Cassano gewidmet, der kurz vor dessen Erscheinen gestorben ist, und bezieht sich, ohne ihn zu nennen, auch auf den Ethnologen Ernesto De Martino und dessen Studien zu Tarantismus und Dionysos-Kult: "Schwarze Traube" wurde Francesco als Kind von seiner Mutter genannt, daraus werden in Apulien Primitivo und Negramaro gekeltert, "Weine, die einem den Verstand vernebeln". Das Motiv wird variiert, so wenn der Großvater Francesco bittet, bei der Weinlese zu helfen, und fortgeführt in den Tanz: "Wir zappelten auf die gleiche Weise herum wie unsere Großmütter, die, um allein tanzen zu dürfen, so taten, als wären sie von einer Tarantel gestochen und so zum Tode verurteilt worden." In den Fünfzigerjahren wurde De Martino bei Feldforschungen in Apulien auf orgiastische Kulte aufmerksam, in die sich Frauen, angeblich nach einem Biss der Tarantel, hineinsteigerten, eine rituelle Fiktion, die sie aus der Männergesellschaft ausbrechen und ungelöste Konflikte ausleben ließen.
In der Mitte des Romans zieht Claudia von Mailand "in einen noch nördlicheren Norden, dorthin, wohin die neuen italienischen Glücksritter strömten: nach Berlin". Die Stadt, "modern und kosmopolitisch", fasziniert sie, die Straßen mit Kopfsteinpflaster, die U-Bahn, die Parks und Kanäle, die Leute, die Start-ups, die Sonnenuntergänge. In einem Club trifft sie die "Wonder Woman" Erika, eine Italienerin aus Ligurien, und verfällt dem Georgier Andria, der die Androgynität im Namen trägt, sie verliert den Job, wechselt die Wohnung, gründet ein Catering. Endlich folgt Francesco, der als Makler gearbeitet und es mit der Mafia zu tun bekommen hat, ihr nach, "um an den Dingen teilzuhaben, die in ihrem Leben passierten". Plötzlich scheint möglich, was er "seit zwanzig Jahren begehrte".
Berlin versetzt Claudia und Francesco in Euphorie, die Hauptstadt der Übertretung, der sexuellen Fluidität und Freiheit, wo alles möglich und Diversität selbstverständlich ist. Ihre unkonventionelle Liebesgeschichte ist eine postmoderne éducation sentimentale, von deren Leidenschaften und Abweisungen, Schamempfinden und Ambivalenzen um "ein anderes Mannsein" Mario Desiati in einer feinfühligen und direkten Sprache erzählt. Als Vertreter der Generation Erasmus leben sie in einem Europa ohne Grenzen, doch können nomadische Mobilität und Job-Hopping nicht hinwegtäuschen über die tiefe Kluft zwischen Süden und Norden, zwischen dem ländlichen Apulien und der schlaflosen Metropole.
Das Verhältnis von Verwurzelung und Entwurzelung, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung reflektiert der Roman, wie er, nicht durchweg stimmig in seiner Erzählperspektive, die Lebenswege von Claudia und Francesco parallel führt und kontrastiert, grundlegend und differenziert. Noch in Episoden und Kleinigkeiten wird es anschaulich: "Apulien, Martina, unsere Himmel packen einen mit ihren verdammten scharfen Krallen, man kommt nicht ohne Kratzer von ihnen los." Claudia kann sie wegstecken, Francesco aber kehrt dorthin zurück, wo sie ihn sarkastisch "den Deutschen" nennen, der es in der Fremde nicht geschafft, keine Frau und keinen festen Job hat. Bei der Osterprozession schultert er die Judas-Statue, er beginnt ein neues, "langsames" Leben, kümmert sich um einen Olivenhain, entscheidet sich für eine Sorte, die nach frühestens zwanzig Jahren Früchte trägt, und zieht in die Trulli seiner Großeltern, die in Rollstühlen vor sich hindösen. Als Claudia ihn an einem schönen Junitag besucht, lässt sie sich zu "Expat-Gejammer" über ihren Heimatort hinreißen. Das Paradies der Kindheit gibt es nicht mehr, die Schlange im Brunnen ist eine Blindschleiche, Tornados durchschneiden den Himmel.
Was aber bleibt, ist die Poesie. Bücher vor allem apulischer Schriftstellerinnen haben Claudia auf ihren Wegen begleitet. Wie der durchkomponierte, 2022 mit dem Premio Strega ausgezeichnete Roman mit je drei Kapitelüberschriften im apulischen Dialekt und auf Deutsch auf sie anspielt, öffnet Fenster in eine andere Wirklichkeit, die sich dem Leser, weil die Autoren hierzulande kaum bekannt sind, nicht ohne Weiteres erschließt. Am Ende tragen Francesco und Claudia einander Gedichte vor. Was die "Spatriati", die Heimatlosen, in der Realität nicht (mehr) finden, finden sie in der Literatur: Heimat. ANDREAS ROSSMANN
Mario Desiati: "Spatriati". Roman.
Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
256 S., geb.
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