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Besprechung vom 08.08.2023
Ein Vermittler zwischen harten Fronten
Im eisernen Jahrhundert: Volker Reinhardts Biographie Michel de Montaignes
Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Schweizer Université de Fribourg, hat nach einer Reihe von Biographien - etwa zu Leonardo da Vinci, Michelangelo, Niccolò Machiavelli, Martin Luther, Voltaire oder de Sade - nun auch Michel de Montaigne eine Darstellung gewidmet. In Abgrenzung zu den bisher vorliegenden Biographien - zuletzt von Sarah Bakewell (2011), Philippe Desan (2014) und Nikolaus Egel (2017) - verfolgt Reinhardt die Strategie einer weiter ausgreifenden historischen Kontextualisierung.
Reinhardt stützt sich nicht nur auf Montaignes Texte und die vielfältigen Kommentare seiner Leserschaft seit mehr als vier Jahrhunderten, sondern auch auf archivalische und zeitgenössische Quellen (etwa von Étienne de la Boétie, dem engen, früh verstorbenen Freund Montaignes), die manche Korrekturen der Selbstdarstellung des Autors erlauben. So habe Montaigne, bemerkt Reinhardt, die eigene Herkunft, den adeligen Rang seiner Familie und ihre Geschichte geschönt; eigentlich hätte er bekennen müssen, sein Name sei Michel Eyquem, doch verschwieg er diesen ererbten Namen und nannte sich Montaigne nach einem adeligen Sitz, den erst sein Großvater erworben hatte. Gleich in seiner Einleitung räumt Reinhardt jedoch auch ein: "Um erfolgreich gegen Fanatismus und Grausamkeit anschreiben zu können, musste er in der Öffentlichkeit als Aristokrat anerkannt werden, sonst durfte er mangels Status nicht auf Gehör hoffen."
Reinhardts Verweis auf Grausamkeit und Fanatismus bezieht sich auf ein Jahrhundert der Schlachten, Bürgerkriege, Hexenverfolgungen und Religionskriege, von den Kriegen zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich (1562-1598) und der berüchtigten "Bartholomäusnacht" im August 1572 bis zum Englisch-Spanischen Krieg (1585-1604); nicht umsonst hat der britische Historiker Henry Kamen das Jahrhundert Montaignes als "Iron Century" charakterisiert.
Wie es bereits der Untertitel von Reinhardts Buch, "Philosophie in Zeiten des Krieges", zum Ausdruck bringt, bildet dieses "Iron Century" den historischen (und zugleich erneut aktuellen) Rahmen, auf den der Autor seine Montaigne-Studien bezieht. Gewürdigt werden vor allem Montaignes Bemühungen um Vermittlung zwischen den Akteuren in den macht- und religionspolitischen Kriegen: etwa zwischen dem regierenden Monarchen Heinrich III., dem Hugenottenführer Heinrich von Navarra (und späteren König Heinrich IV.) und Heinrich von Guise, dem Anführer der ultrakatholischen Liga. Aus dieser Perspektive beschreibt Reinhardt auch Montaignes zuerst etwas zögerliche, danach aber doch engagierte Ausübung des Amtes eines Bürgermeisters von Bordeaux in den Jahren zwischen 1582 und 1585.
Ausführlich kommentiert Reinhardt Montaignes Reisebuch, das Tagebuch einer Reise über die Schweiz, Deutschland, Österreich, Nord- und Mittelitalien bis nach Rom (vom 5. September 1580 bis zum 30. November 1581). In seiner Analyse bezieht sich Reinhardt mehrfach auf den Wechsel der Erzählperspektive - im ersten Teil des Reisebuchs berichtet ein anonymer Sekretär und Diener, später dann Montaigne selbst - und argumentiert für eine Art von Camouflage des Verfassers der eben erst in zwei Bänden erschienenen "Essais", die Montaigne in Rom freiwillig von der Zensurstelle der Inquisition prüfen ließ.
Das Reisebuch wurde vermutlich nicht für eine Drucklegung geschrieben; erstmals publiziert wurde es im Jahr 1774, nahezu hundert Jahre nachdem die katholische Kirche Montaignes "Essais" auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt hatte. Im Sinne der stoischen "cura sui", die Michel Foucault in seinem Spätwerk als "Selbsttechnik" untersucht hat, fungierte das Reisebuch auch als eine Art von Krankheits- und Kurprotokoll; die Details der überaus schmerzhaften Steinkrankheit, an der Montaigne litt, empfindet Reinhardt allerdings gelegentlich als "peinlich".
Vielleicht auch mit Blick auf die schon vorliegenden Biographien widmet sich Reinhardt nur auf etwa einem Fünftel der Druckseiten der Auseinandersetzung mit den "Essais", dem eigentlichen Lebenswerk Montaignes. Sie werden - chronologisch geordnet nach den jeweiligen Ausgaben mit ihren späteren Ergänzungen und Erweiterungen - in einer Auswahl vorgestellt, die zum Rahmen der gesamten Darstellung passt.
Mitunter verführt die präzise und überaus lesenswerte historische Kontextualisierung - im Kontrast zu Montaignes Selbstdarstellung in den "Essais" - zu einer psychologisierenden Betrachtung; dann erscheint Montaigne plötzlich als eitle, narzisstisch selbstverliebte, in seinen politischen Bemühungen obendrein weitgehend erfolglose Persönlichkeit. Hat sich Montaigne tatsächlich, wie der Titel eines Unterkapitels nahelegt, als "Biedermann" präsentiert? Immerhin schließt Reinhardt mit einem auch an gegenwärtige Debatten adressierbaren Zitat aus dem Essai "Über die Gesprächs- und Diskussionskunst": "Wenn man mir widerspricht, weckt man meine Aufmerksamkeit, nicht meinen Zorn. Ich gehe auf denjenigen zu, der anderer Meinung ist als ich, denn er bereichert mich." THOMAS MACHO
Volker Reinhardt: "Montaigne". Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 330 S., geb.
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