Besprechung vom 16.02.2021
Immer am Spinnfaden entlang
Alle Wege führen zur mythischen Stifterin der schönen Webkünste: Edi Zollinger folgt einmal mehr mit detektivischer Lust den Spuren der Arachne in Bildern und Texten.
Beginnen wir bei Flaubert. Obwohl er im neuen Buch von Edi Zollinger erst ziemlich genau in der Mitte auftaucht, nach dem ersten Übergang von den Malern zu den Schriftstellern. Es geht um eine Stelle in "Madame Bovary". Der tumbe Charles hat gerade Emma auf dem Gutshof ihres Vaters kennengelernt, macht sich zum Aufbruch bereit und möchte seinen zu Boden gefallenen Ochsenziemer aufklauben - den ihm die junge Frau, welche ihm zuvorkommt, schließlich in einem von Flaubert auffällig inszenierten Überund Gegeneinander der Körper reicht.
Es ist klar, dass Flaubert da Anzügliches im Sinn hat, und wie es auszubuchstabieren sein könnte, hat den Literaturwissenschaftler Zollinger in einem früheren Buch auf anregende Art beschäftigt. Diesmal aber haftet sich sein Spürsinn an ein Detail, das selbst aufmerksame Leser der "Madame Bovary" wohl übergangen haben werden. Die Szene spielt nämlich in einem Saal, in dem über dem Kamin eine goldgerahmte Bleistiftzeichnung von Emma hängt. Sie zeigt einen Minerva-Kopf und darunter die Widmung "À mon cher papa".
Mehr braucht es für einen mit detektivischem Ehrgeiz seine Spuren aufnehmenden Interpreten wie Zollinger nicht. Der schwarze Stift, der Goldrahmen und natürlich das Motiv, der Kopf der Göttin, sie werden in ein Netz der Referenzen gezogen, das die vorangehenden Abschnitte bereits gewoben haben. Eine Passage in Victor Hugos "Notre-Dame de Paris" spielt da unmittelbar eine Rolle, doch mittelbar auch, wie die dort auftauchende Spinne - schwarz vor der (goldenen) Sonne - den Faden an die Hand gibt, von dem Zollinger sich zurückleiten lässt zur mythischen Spinnerin, die er einmal mehr im Blick hat: zu Arachne, die nach Ovid mit Minerva in den Wettstreit trat, wer die bessere Weberin sei, diese Konkurrenz eigentlich gewann, doch von der darüber erzürnten Göttin in eine Spinne verwandelt wurde.
Auf Arachne also laufen die Fäden zu. Und weil sie als Stifterin aller künstlerischen Webarbeit gelten darf, sollte nach Zollinger auch nicht verwundern, dass Maler und Dichter den Verweis auf sie verwenden, wenn sie einem Großen ihres Metiers die Reverenz erweisen und dabei erkennen lassen, dass sie sich darauf nicht schlechter verstehen. Solche Hommagen sieht er immer wieder in Bild und Text gesetzt. Flaubert hat demnach mit Hilfe von Emmas Zeichnung, die Arachne Tribut zollt, dem Übervater Hugo seine Reverenz erwiesen.
Wie da die Fäden genau laufen, die Zollinger verwebt, ist auf knappem Raum kaum nachzuzeichnen. Ein zentraler Verknüpfungspunkt ist das Bildmotiv des "Raubs der Europa", weshalb am Beginn des schmalen Buchs "Die Spinnerinnen" von Velázquez stehen, in deren Hintergrund Arachnes einschlägige Webarbeit im Wettkampf mit der Göttin in Gestalt von Tizians Version dieses Motivs auftaucht (oder von Rubens' Kopie des Tizian-Gemäldes): Europa, sich zurückwendend zu ihren Freundinnen am Strand, auf dem Rücken des Jupiter-Stiers - und die gemalte respektive gewebte Szene wird bei Velázquez wohl betrachtet von der erzürnten Artemis.
Die Anwendung auf Flaubert fordert dann, das anzügliche Ballett von Emma und Charles als Variante des "Raubs" zu sehen, der auch hier von Artemis, präsent in Gestalt von Emmas Zeichnung, betrachtet wird. Bevor es schließlich noch etwas subtiler wird, um die ganze Szene als in den Text der "Bovary" gewebte Reverenz vor dem "großen Krokodil" - wie Flaubert in seinen Briefen mit einer Mischung von Hochachtung und Ironie (obwohl die Werke mit den prächtigsten Hugolismen damals ja erst noch kommen sollten) Hugo titulierte - deuten zu können.
Flaubert, schreibt Zollinger einmal, habe die wahrscheinlich schönste Kopie von Arachnes Webarbeit in der Weltliteratur hinbekommen. Vermutlich solcher Begeisterung wegen leistet er sich beim Spinnen dieses Interpretationsfadens eine kleine Schummelei. Denn bei Flaubert blickt Emma nun einmal über die Schulter hinweg Charles an, wenn sie ihm den bedeutungsreichen Ochsenziemer, den nerf de boeuf, reicht, was weder mit Ovids Beschreibung der das Horn des Stiers umklammernden Europa (schon alte Interpreten brachte das auf muntere Gedanken) noch mit Tizians/Rubens' Bild nach Ovids Vorlage so passgenau zusammengeht, wie Zollinger meint.
Aber solch kleine Verrückungen zum höheren Ziel sind bei ihm eher die Ausnahme. Eher schon möchte man von der einen großen Verrückung sprechen, die seinen ganzen Parcours durch Bilder und Texte anleitet: ebendie Erwartung, in ihnen auf die Spur Arachnes zu stoßen, sei es über das Motiv des Raubs der Europa oder über die zwischengeschaltete Figur des von Omphale zur Spinnarbeit gebrachten Herkules, der im Titel auftaucht. Diese Suchbewegung beginnt zwar, wenn es um die Maler geht, auf dem Terrain etablierter ikonographischer Entschlüsselung. Doch dann wird es meist schnell subtil, wird aus Winken, die nicht zuletzt in Bildhintergründen, in Bildern im Bild stecken, ein Netz von Verweisen, das Velázquez, Rubens und Goya im Zeichen von Arachne verknüpft - und aus dem auch eine Antwort auf die große Rätselfrage springen soll, was denn nun der Spiegel in Velázquez' "Las Meninas" zeige, nämlich Philipp IV. und seine Frau als: Jupiter und Europa.
Die Frage, die sich jenseits einzelner Schritte der Interpretationen auftut, lautet natürlich: Ist es denn wirklich glaubhaft, dass die Maler und einige der Schriftsteller - neben Flaubert kommen noch Hugo, Gautier, Proust und Apollinaire ins Spiel - so intrikate Konstruktionen in ihre Werke hineingeheimnisst haben, dass erst der detektivische Spürsinn des Arachnisten Zollinger sie durchschaut? Sieht da nicht der Interpret, zumindest bei seinen Paradestücken, was er nun einmal sehen möchte, jenseits aller historisch-werkgenetischen Plausibilität? Wenn man etwa jede malerische Entlehnung einer Figurenhaltung als semantisch bedeutsamen Transport nehmen würde, wie es Zollinger beherzt tut, man endete im Beziehungswahn. Und Flaubert hatte zwar seine "gelehrten" Seiten, aber die verrätselte Verfahrensart der vermeintlichen "Widmung" an Hugo passt nun wirklich nicht ins Bild dieses Autors.
Auf solche Vorhaltungen könnte ein selbstbewusster Arachnist entgegnen: Selbst wenn man den Künstlern und Dichtern diese subtilen Konstruktionen nicht zuschreiben wollte, sind sie eben doch zustande gekommen, durch die Eigenmacht tiefliegender Bildmotive. Aber der überaus sympathische Zug an Zollinger ist, dass er diesen Überstieg in ein "Es webt" - die Sprache, die Bilder - gerade nicht macht. Es müssen für ihn schon intendierte Spiele sein. Das gehört zum angenehm Altmodischen dieses Interpreten, von dem sich überhaupt sagen lässt, dass er das Kunststück vollbringt, die hochfliegendsten Entschlüsselungen auf bodenständige Weise in unprätentiös schlanker Prosa vorzuführen.
Weshalb es auch gar nicht von größter Wichtigkeit ist, wie weit man ihnen folgt. Denn man lernt vieles auf diesen Wegen, begegnet Autoren, blättert in Büchern und schlägt Bilder nach. Und wenn der Autor es zuletzt schafft, eine definitive Bestätigung seiner arachnistischen Passion, nämlich das (für ihn evidente) Auftauchen einer Spinne an der Stelle des Selbstporträts von Velázquez in einer der "Las Meninas"-Variationen von Picasso, mit einer Bescheidenheitsgeste zu verknüpfen - im Sinne von: Nein, nicht ich habe als Erster dieses Geheimnis gelüftet, Picasso war's -, sieht man ihm ohnehin alle Verstiegenheiten nach.
HELMUT MAYER.
Edi Zollinger: "Herkules am Spinnrad". Rubens - Velázquez - Picasso.
Hanser Verlag, München 2021.
176 S., Abb., br.
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