Besprechung vom 13.09.2024
Von Zittau nach Georgia als Berater der Cherokee
Schlafröcke und Tintenfinger: Martin Mulsow vermisst auf überaus anregende Weise Tiefen und Untiefen gelehrten Wissens in der Frühaufklärung
Eine Ding-Geschichte im landläufigen Sinne ist das vorliegende Buch trotz seines Titels nicht. Zu den "100-Dinge"-Anthologien, die seit geraumer Zeit en vogue sind, hält es Distanz, und es macht die Dinge auch nicht zu Akteuren von Netzwerktheorien. Wenn der Titel "Aufklärungs-Dinge" dennoch seine Berechtigung hat, dann vor allem aus einem Grund: Es sind Dinge, die den sieben intellektuellen Biographien des Buches die Richtung weisen und sie zu Sonden in die Wissenswelten der "Übergangsepoche" zwischen Barock und Aufklärung werden lassen.
Ob Guckkasten, Porzellanindianer oder Schlafpelz, ob Goldmünze, Wünschelrute, Silenbüste oder das Geäst eines Baumes: Es sind Dinge, die es dem Verfasser erlauben, in die gelehrten und oft genug prekären Innenwelten der Wissenskultur um 1700 vorzudringen und dabei vor allem jene Widersprüche und Unzufriedenheiten aufzuspüren, die sich schließlich als systemsprengend erweisen sollten. Man kann es auch so sagen: Der beste Kenner der radikalen Frühaufklärung in Deutschland gibt den "Aufklärungs-Dingen" jene subversive Kraft zurück, die sich immer wieder auch als Ironie niederschlug.
Am Anfang steht der Guckkasten, der seit der Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert auf Märkten und Messen auftauchte und dort für Zulauf sorgte. Das Publikum wollte einen Blick in das Innere der Apparatur werfen, um Landschaften oder Theaterszenen zu sehen. Es war nur konsequent, dass die neue Attraktion bald auch ihren Weg in Periodika fand - und 1717 sogar zum Titelkupfer der "Aufrichtigen und Unpartheyischen Gedancken" avancierte, eines Journals über Journale, das der Jurist Christian Gottfried Hoffmann 1714 in Leipzig gegründet hatte.
Der hellsichtige Hoffmann wusste sehr genau um die Funktionsanalogie zwischen Journal und Guckkasten, die beide Teil des medialen Panoramas der Zeit waren und dazu beitrugen, ein multiperspektivisches Welt- und Wirklichkeitsverständnis vorzubereiten. Hoffmann war klar, dass es hier nicht einfach nur um Neugierde ging, sondern darum, den Umgang mit der neuen Komplexität periodischer Wissensverbreitung einzuüben.
Der zweite dingliche Wegweiser des Buches ist eine Indianerfigur, die es den Reichen erlaubte, ihre Vorstellungen und Sehnsüchte in Form des neu entwickelten Porzellans aus Meißen im Wohnzimmer zu platzieren. Unabhängig davon war es allerdings durchaus möglich, "echte Wilde" aus der Neuen Welt zu bestaunen. Als im November 1722 in Zittau in der Oberlausitz ein Schiffskapitän zwei "indianische Printzen aus America" gegen Geld zur Schau stellte, war mit großer Wahrscheinlichkeit auch der fünfundzwanzigjährige Anwalt Christian Gottlieb Prieber unter den Zuschauern. Wir wissen, dass Prieber schon früh unter den politischen und sozialen Verhältnissen seiner Zeit litt, nicht zuletzt unter den Zumutungen des Universitätsbetriebs.
Was auch immer der Auslöser war, 1734 verließ dieser radikale Frühaufklärer seine Heimatstadt, um über London nach Georgia auszuwandern, wo er sich den Cherokee-Indianern anschloss. Obwohl alle seine Aufzeichnungen verloren gegangen sind, erlauben es die Berichte anderer Grenzgänger, Prieber als kulturellen Übersetzer (und kulturellen Konvertiten) in den Blick zu nehmen, der seine Ideen bei den Cherokee weiterentwickelte. Am Ende stand der radikal-utopische Entwurf eines republikanischen Gemeinwesens, von dem zwar nur die Gliederung überliefert ist, dessen kommunitäre Ethik im achtzehnten Jahrhundert aber ihresgleichen gesucht haben dürfte. Ihr Autor starb 1745 als Gefangener der britischen Kolonie.
Was dem einen Amerika, war dem anderen sein Schlafrock oder -pelz: Am Beispiel des Juristen, Historikers und notorischen Schlafrockträgers Tobias Pfanner, der als Hofrat an den Höfen von Gotha und Weimar wirkte, geht es um das Spannungsfeld zwischen gelehrtem Eigensinn und fürstlicher Gängelung und damit auch um die Frage nach dem Verhältnis von Informalität und Formalität. Der Universalgelehrte Pfanner etablierte am Rande des Hofes eine Wissensökonomie sui generis, die Freiräume für Positionen jenseits des üblichen Konfessionalismus eröffnete.
Pfanners Schlafrock stellte Distanz zum Hof her. Goldmünzen dagegen, vor allem jene alchemischer oder doch vermeintlich alchemischer Provenienz, und numismatische Kenntnisse dagegen öffneten höfische Türen; kein Hof ohne Numismatiker. Einer dieser Experten war Wilhelm Ernst Tentzel, der als Macher des erstmals 1689 erschienenen dialogischen Rezensionsjournals "Monatliche Unterredungen" längst in die Gelehrtenrepublik eingebunden war, als er in Gotha und später in Dresden seine Münz- und Medaillenexpertise zum Medium höfischer Kommunikation werden ließ, indem er nicht zuletzt Numismatik und Historiographie miteinander verband. Die "Monatlichen Unterredungen" erlauben es, den Polyhistor Tentzel wie im "Livestream" beim Arbeiten und Denken zu beobachten.
Der fünfte dingliche Wegweiser des Buches ist die Wünschelrute. Ausgehend von einem Rutengänger auf dem Titelkupfer des 1722 erschienenen ersten Bandes der Schriftenreihe "Poecile" des Theologen Christoph August Heumann, widmet sich das Kapitel diesem Gelehrten und leidenschaftlichen Verbesserer. Heumann ging es zeitlebens um das Aufspüren, Schürfen, Anreichern und Reinigen von Wissen, wobei er die ewige Emendation zur sozialen Praxis werden ließ, Wahrheitsähnlichkeit reichte ihm. Ganz anders sein Kollege und Konkurrent Jacob Friedrich Reimmann, der den alten "Baum des Wissens" mit all seinen Verästelungen - Mulsows sechster dinglicher Wegweiser - verabschiedete und die Vorstellung eines völligen Nichtwissens als Grundlage der "Conditio humana" stark machte. Gleichzeitig wusste dieser Gelehrte um die Paradoxie einer postmetaphysischen Wissensgeschichte ohne Grund und Boden. Er verschränkte radikale Skepsis und providentielle Gewissheit und konnte auf diese Weise die konkurrierenden Denkrichtungen so betrachten, als würden die Wurzeln des Baums der menschlichen Ignoranz nach oben hängen.
Am Ende steht bei Mulsow eine kaum sieben Zentimeter große Figur aus Metall, die der Bibliothekar und Orientalist Hermann von der Hardt in der Helmstedter Universitätsbibliothek aufstellen ließ: die Figur eines Silens, eine Art Satyr, die dem zensierten Gelehrten, dem man die Bibelexegese verboten hatte, emblematisch geworden war, denn sie verkörperte, was er sich zu eigen machen musste, das Schweigen, das "politische" Schweigen. 1727 in die Frühpension geschickt, konnte von der Hardt die Welt, die betrogen sein wollte, nur noch als Verblendungszusammenhang wahrnehmen, auf den er mit einem bukolischen Rückzug ganz eigener Art reagierte. Auch er war einer jener unzufriedenen Männer mit "inky fingers", die dazu beigetragen haben, jene intellektuellen - und sozialen - Resonanzräume zu schaffen, ohne die wir das skeptische achtzehnte Jahrhundert nicht begreifen. Es ist ein großer Glücksfall, dass wir jetzt auch die dingliche Ausstattung dieser Räume kennen. PETER BURSCHEL
Martin Mulsow: "Aufklärungs-Dinge". Zweifler und Verzweifelte im Umbau des Wissens um 1700.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024. 304 S., Abb., br.
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