In den letzten Jahren gab es einen regelrechten Trend hin zu ostdeutscher Literatur. Viele Autor:innen waren für etliche Buchpreise nominiert oder haben sie sogar gewonnen. Wie beispielsweise Jenny Erpenbeck, die mit Kairos den International Booker Prize gewonnen hat, oder Anne Rabes Möglichkeit von Glück, das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 stand. Inwiefern prägen politische Strukturen Gesellschaften und das Private? Dieses Thema treibt wohl alle Autor:innen ostdeutscher und DDR-Romane um. Die Protagonist:innen durchleben Umbrüche und müssen ihren Platz in der wiedervereinten Nation erst finden. Und so blickt jedes dieser Bücher mit Ostdeutschland als Handlungsort auf unterschiedliche Schicksale, die aber eins vereint: ihre Herkunft.
1. Charlotte Gneuß: Gittersee
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Buch (gebunden)
Darum geht es: 1976, im Dresdner Vorort Gittersee: Karin ist 16, hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter im Haushalt, die ihrer Zeit als Blitzmädel hinterhertrauert. Karins Vater verzweifelt an der Reparatur seines Skodas wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht bei der Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen.

Darum lieben wir dieses Buch: "Gittersee" ist der Debütroman von Charlotte Gneuß und war direkt für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert. Wer ein Buch über Ostdeutschland und gleichzeitig eine Coming of Age-Geschichte sucht, ist hier richtig. In diesem ostdeutschen Roman fühlt man richtig, wie es wohl war, im Dresden der Siebzigerjahre erwachsen zu werden. Der atmosphärische Schreibstil vermittelt sehr authentisch den DDR-Vibe zwischen Kindheit und oppressivem Staat. Klare Leseempfehlung!
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2. Jenny Erpenbeck: Kairos
(48Bewertungen)15
Taschenbuch
Darum geht es: Die neunzehnjährige Katharina und Hans, ein verheirateter Mann Mitte fünfzig, begegnen sich Ende der achtziger Jahre in Ostberlin, zufällig, und kommen für die nächsten Jahre nicht voneinander los. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR und des Umbruchs nach 1989 erzählt Jenny Erpenbeck in ihrer unverwechselbaren Sprache von den Abgründen des Glücks - vom Weg zweier Liebender im Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Lüge, von Obsession und Gewalt, Hass und Hoffnung. Alles in ihrem Leben verwandelt sich noch in derselben Sekunde, in der es geschieht, in etwas Verlorenes. Die Grenze ist immer nur ein Augenblick.

Darum lieben wir dieses Buch: Jenny Erpenbeck ist laut dem Guardian "eine der wichtigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit". 2024 erhielt die ostdeutsche Autorin für "Kairos" den Internationalen Booker Prize. Zu Unrecht flog sie in Deutschland jahrelang unter dem Radar, während das Ausland sie feierte. Es gibt wenige Autor:innen, die auf einem so hohen literarischen Niveau schreiben, deren Texte aber dennoch zugänglich sind. Hier sitzt jeder Satz. Bei "Kairos" steht vor allem die toxische Beziehung zwischen Katharina und Hans im Vordergrund, die untergehende DDR spielt sich eher im Hintergrund ab.
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3. Patricia Hempel: Verlassene Nester
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Buch (gebunden)
Darum geht es: Sommer 1992 im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet. Pilly ist dreizehn und sehnt sich nach Zugehörigkeit. Aber auch zwei Jahre nach der Wiedervereinigung hängt ihre Familie noch immer an den Idealen von Gestern. Der Vater flüchtet in die Gaststätte, die Tanten träumen vom Goldenen Westen und von Pillys Mutter fehlt nach wie vor jede Spur. Halt findet Pilly nur in der älteren Mitschülerin Katja. Ein Trugschluss. Sie ahnt nicht, dass am Ende dieses Sommers ihre Welt abermals eine andere sein wird.

Darum lieben wir dieses Buch: Zunächst einmal lieben wir das Cover sehr, aber auch der Inhalt zieht sofort in seinen Bann. "Verlassene Nester" ist ein Coming of Age Roman, der nach der Wende in Ostdeutschland spielt. Besonders Pilly ist uns sehr ans Herz gewachsen, die es oft nicht leicht hat. Freundschaft, Liebe und ein unvergesslicher Sommer sind hier der Stoff, aus dem diese Nachwendezeit-Geschichte besteht.
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4. Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
(65Bewertungen)15
Buch (gebunden)
Darum geht es: Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen.

Darum lieben wir dieses Buch: "Die Möglichkeit von Glück" war 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dieses Buch über Ostdeutschland in der Nachwendezeit ist nicht nur eine persönliche Familiengeschichte, sondern gibt auch tiefe Einblicke in die deutsche Historie. Anne Rabe wird dabei nie nostalgisch, sondern bemüht sich um ein sehr reflektiertes, teilweise auch schonungsloses Bild der DDR-Vergangenheit. Ein hochpolitischer Roman über die Ursprünge von Rassismus und Gewalt, der nachhallt.
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5. Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens
(64Bewertungen)15
Buch (gebunden)
Darum geht es: Muna liebt Magnus. Ob und wen Magnus liebt, ist schwer zu sagen. Was geschieht mit einem Leben, das man in Abhängigkeit von einem anderen führt? Muna steht vor dem Abitur, als sie Magnus kennenlernt, Französischlehrer und Fotograf. Mit ihm verbringt sie eine Nacht. Mit dem Mauerfall verschwindet er. Erst sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer nur zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben.

Darum lieben wir dieses Buch: An Terézia Mora kommt niemand mehr vorbei: 2018 hat sie für ihr Gesamtwerk den renommierten Georg-Büchner-Preis erhalten, mit "Muna oder Die Hälfte des Lebens" war sie 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Auch hierbei handelt es sich um ostdeutsche Literatur nach der Wende. Und im Fokus steht hier eine von körperlicher und emotionaler Gewalt geprägte Beziehung. Eine wahnsinnig unter die Haut gehende Geschichte in einer stark patriarchal geprägten Zeit. Psychologisch messerscharf und zum Nachdenken anregend.
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6. Constanze Neumann: Das Jahr ohne Sommer
(117Bewertungen)15
Buch (gebunden)
Darum geht es: Wohin geht man, wenn man im Nirgendwo steht: zwischen zwei Ländern, zwischen nahen Erinnerungen und ferner Gegenwart, zwischen einem stets redenden Vater und einer schweigenden Mutter? Das Mädchen ist sechs, als sie die DDR verlässt und mit ihrer Familie ein neues Leben im äußersten Westen Deutschlands beginnt. Warten dort die Verheißungen, auf die ihre Eltern gehofft haben? Kann der Vater sich neu erfinden, wird die Mutter ihre Krankheit, aus DDR-Gefängnissen mitgebracht, überwinden? Das Kind sehnt sich nach der Großmutter im fernen Leipzig und lernt, wie die Aachener zu reden: ein Schweben zwischen den Welten, das auch nicht zu Ende geht, als 1989 die Mauer fällt.

Darum lieben wir dieses Buch: Die ostdeutsche Autorin Constanze Neumann hat mit "Das Jahr ohne Sommer" einen autofiktionalen Roman über ihre eigene Geschichte geschrieben. Schon der erste Satz "Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt." ist unglaublich stark und transportiert die innere Zerrissenheit über ein verloren gegangenes Heimatgefühl. Eine sehr berührende Geschichte über Familie und Herkunft und wie sie einen Menschen prägt.
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7. Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
(195Bewertungen)15
Taschenbuch
Darum geht es: Eine Liebe, die alles hinwegfegt. Zu einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie Maria und der ein dunkles Geheimnis trägt. Während die Weltgeschichte im heißen Sommer 1990 Atem holt, während ein ganzes Land sich umwälzt und die Atmosphäre vibriert von Möglichkeiten, wird ein junges Mädchen zur Frau und Geliebten. Es geschieht Erschütterndes, außen wie im Inneren, und die fatale Verstrickung der zwei Liebenden endet brutal.

Darum lieben wir dieses Buch: "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" war 2011 der Debütroman von Daniela Krien. Vor dem Hintergrund der gefallenen Mauer kapseln sich die zwei Liebenden Maria und Henner von den politischen und kulturellen Ereignissen komplett ab. Eine intensive Liebesgeschichte in einem untergegangenen Land, in der das Zeitgeschehen wie hinter einer Schattenwand seinen Lauf nimmt. Lesenswert!
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8. Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt
(162Bewertungen)15
Taschenbuch
Darum geht es: Iris Wolff erzählt die bewegte Geschichte einer Familie aus dem Banat, deren Bande so eng geknüpft sind, dass sie selbst über Grenzen hinweg nicht zerreißen. Ein Roman über Menschen aus vier Generationen, der auf poetische Weise Verlust und Neuanfang miteinander in Beziehung setzt. Hätten Florentine und Hannes den beiden jungen Reisenden auch dann ihre Tür geöffnet, wenn sie geahnt hätten, welche Rolle der Besuch aus der DDR im Leben der Banater Familie noch spielen wird? In "Die Unschärfe der Welt" verbinden sich die Lebenswege von sieben Personen, sieben Wahlverwandten, die sich trotz Schicksalsschlägen und räumlichen Distanzen unaufhörlich aufeinander zubewegen.

Darum lieben wir dieses Buch: "Die Unschärfe der Welt" von Iris Wolff ist eine zarte und poetische Geschichte, die ihre Leser:innen vor allem durch die Naturbeschreibungen sanft umhüllt. Am Horizont bricht jedoch gleichzeitig das kommunistische System in Osteuropa auseinander. Ort des Geschehens ist das Banat, eine malerische Region zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn. Ostdeutschland bzw. die DDR werden in diesem Buch, das sich über fast ein ganzes Jahrhundert erstreckt, nur gestreift, aber wir möchten diese Geschichte trotzdem jedem ans Herz legen.
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9. Helga Schubert: Vom Aufstehen
(96Bewertungen)15
Taschenbuch
Darum geht es: Helga Schubert erzählt in kurzen Episoden und klarer, berührender Sprache ein Jahrhundert deutscher Geschichte - ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.

Darum lieben wir dieses Buch: Die Geschichtensammlung der Ingeborg Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert beschreibt die DDR und das wiedervereinigte Deutschland vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebensweges. Ein sehr persönliches Buch übers Friedenschließen mit sich und der Vergangenheit. Dieses Buch trifft mitten ins Herz!
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10. Anja Reich: Simone
(127Bewertungen)15
Buch (gebunden)
Darum geht es: Berlin, Mitte der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen feiern, tanzen, reisen, verlieben sich - und werden im Osten der Stadt erwachsen. Dann fällt die Mauer, und das Leben der Freundinnen verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Simone reist durch die Welt, Anja bekommt ein Kind, heiratet, beginnt zu arbeiten. Sie treiben auseinander und verlieren sich doch nicht. Bis zu dem Tag, an dem Simone für immer geht und Anja zurückbleibt. Wer war Simone? Und warum hat sie sich das Leben genommen? Auf der Suche nach Antworten unternimmt die Autorin eine Reise zurück in das Leben der Freundin und in ihr eigenes. Sie spricht mit Angehörigen, Freund:innen und Expert:innen, liest Briefe, Tagebücher und Dokumente - und fasst die Ergebnisse ihrer Spurensuche zu einem so bewegenden wie aufschlussreichen Buch zusammen.

Darum lieben wir dieses Buch: "Simone" ist ein Genremix aus Memoiren und Recherche, der uns mit in die achtziger und neunziger Jahre Ostberlins nimmt. Vor allem steht aber das Schicksal von Simone im Vordergrund, das sehr schmerzhaft ist und schon auf den ersten Seiten zu Tränen rührt. Dass Anja Reich ihrer Freundin Simone ein Denkmal schafft, berührt und stimmt nachdenklich. Ein aufwühlendes und absolut lesenswertes Buch, das sich förmlich ins Gedächtnis brennt.
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