Besprechung vom 14.08.2019
Eine Schuppe seines Panzers
Vom Leser zum Dichter: In Walter Moers' neuem Zamonien-Roman "Der Bücherdrache" dringt ein junger Abenteurer in die tiefsten Katakomben seiner Stadt ein. Was er dort findet, verändert ihn für immer.
Er hatte es kommen sehen, nun sitzt er wirklich in der Falle: Weil er sich neugierig in die tiefsten Katakomben der Unterwelt von Buchhaim aufmachte, um der Legende vom dort vermuteten Bücherdrachen auf den Grund zu gehen, sitzt der Buchling Hildegunst von Mythenmetz nun im Drachenmaul fest, direkt hinter den Vorderzähnen des riesigen Untiers, so dass er gerade noch einen Blick auf die sumpfige Umgebung erhaschen kann. Dass er noch lebt, verdankt er einzig dem plötzlichen Schlafbedürfnis des Drachen, der seine Kiefer dabei aber fest geschlossen hält. Eine Galgenfrist - nach diesem Schlaf, so hatte es der Drache verkündet, wird es dem Buchling an den Kragen gehen.
Buchhaim, Buchling, Hildegunst von Mythenmetz: Wer den Roman "Der Bücherdrache" unvorbereitet aufschlägt, wird all das zunächst verwirrend finden. Wer dagegen das literarische Werk von Walter Moers kennt, das seit zwanzig Jahren, beginnend mit "Die dreizehneinhalb Leben des Käpt'n Blaubär", den fiktiven Kontinent Zamonien in immer neuen Facetten beschreibt, der weiß, dass Buchhaim eine Stadt der Verleger, Autoren und Drucker ist und dass ihr in alle Richtungen, vor allem aber vertikal ausgedehnter Untergrund ein gigantisches Tunnelsystem voller Bücher in unterschiedlichen Stadien der Zersetzung darstellt. Unter den Lebewesen, die es bevölkern, sind es die Buchlinge, denen, so scheint es, Moers' besondere Liebe gilt: Es sind Kopffüßler mit zwei Armen und Beinen sowie einem einzigen Auge, das ihnen an einem langen Hals aus dem Rumpf wächst. Sie ernähren sich - so steht es in Moers' Roman "Die Stadt der träumenden Bücher - allein von Lektüre, wobei ihnen starkbändige Romane beschwerlich sind und Gedichte eine dann willkommene Diät. Schlechte Rezensionen dagegen hinterlassen einen üblen Nachgeschmack.
Die Hingabe der Buchlinge an die Texte anderer geht so weit, dass sich jeder von ihnen den Namen eines realen Dichters wählt und dessen Gesamtwerk auswendig lernt. Der im Drachenmaul gefangene Buchling nennt sich Hildegunst von Mythenmetz, nach demjenigen Autor in Lindwurmgestalt also, dem Walter Moers die Urheberschaft der Romane zuschreibt, die er selbst dann erst aus dem Zamonischen übersetzt haben will.
Auch "Der Bücherdrache" stamme von Hildegunst von Mythenmetz, heißt es, das Abenteuer des Buchlings aber, der sich einst seinen Namen ausborgte, befindet sich als ausgedehnte Binnenhandlung unter einer Schicht von Erzählungen. Der Dichter Hildegunst, das Original, berichtet von einem Traum, in dessen Verlauf er entweder nach der Lektüre eines Buches geraten war oder in dem er umgekehrt ein Buch vorgefunden hatte, das er nun im Traum las. "Träumte ich dieses Buch", fragt er sich nun, "oder träumte das Buch mich?" Er kommt nun an einer Reihe von Bildern vorbei, die an Abenteuer erinnern, die er in "Die Stadt der träumenden Bücher" beschrieben hatte, bis hin zur Begegnung mit dem düsteren Schattenkönig, wird dann aber - die nächste Erzählschicht - in ein "noch abgründigeres Buch verschleppt, tief in die zamonische Literatur". Dort trifft er endlich den Buchling, der seinen Namen trägt und ihm nun als Dank für die vielen Geschichten aus Mythenmetz' Feder, die er auswendig gelernt hat, nun "eine eigene Geschichte" erzählen will, aber nicht recht weiß, wie.
"Hier fängt der Traum erst richtig an", wendet sich Mythenmetz, das Original, nun an die Leser. Alles Bisherige, insgesamt zehn Seiten, war als Comic erzählt, das Folgende ist ein ausgeschriebener, wenn auch mit vielen Illustrationen des Autors ausgestatteter Roman. Mythenmetz der Buchling erzählt Mythenmetz dem Lindwurm von seinem Abenteuer, das - ganz in mittelalterlicher Romantradition - auf den Bericht anderer zurückgeht, nämlich seiner etwas älteren Klassenkameraden: Er solle in den Sumpf hinabsteigen, in dem der Bücherdrache lebe, und ihm eine Schuppe seines Panzers abnehmen - denn der bestehe aus lauter eingewachsenen Büchern, die sich von gewöhnlichen dadurch unterschieden, dass in ihnen die besondere zamonische literarische Inspiration, genannt "Orm", geradezu physisch spürbar sei.
Der kleine Buchling gelangt dann tatsächlich zum Drachen, der ihm - noch eine Ebene - davon erzählt, wie er einst in die Katakomben von Buchhaim geriet, sich im Sumpf aus verrotteten Büchern wälzte und irgendwann bemerkte, dass er ihren Inhalt über die Haut aufnehmen konnte und so zu einem universal gebildeten Geschöpf avancierte, ein Thema, das Moers in seinen Zamonien-Romanen gern variiert. Hier werden die Inhalte der aufgenommenen Bücher geradezu lebendig, sie dringen als nur für ihn hörbare Stimmen auf ihn ein, bekämpfen einander und verlangen ihm einiges an Konzentration ab, um diese Stoffmenge zu bündeln. All dies erzählt der Drache dem Buchling, froh offenbar darüber, Gesellschaft zu haben. Dann schickt er sich an, den Besucher zu töten, mit der Begründung, er wisse nun zu viel.
"Der Bücherdrache" knüpft also an zwei Jahrzehnte Zamonien-Dichtung an und wirft ein weiteres Schlaglicht in einen zu entdeckenden Kontinent. Auch die Hingabe an die Bücher, deren Materialität und Eigenleben kennt man bestens aus den früheren Texten bis hin zum Heraufbeschwören eines gewissen makellosen Werks, dessen Urheber einst vernichtet wurde, um den lukrativen Absatz von Durchschnittsware nicht zu behindern.
Hier aber wird ein neuer Ton angeschlagen, indem das Augenmerk nicht nur dem Schreiben von Büchern einerseits und ihrer Rezeption andererseits gilt, sondern dem Kreislauf der Inspiration, also des Orms. Denn das ist die eigentliche Essenz dieser Geschichte: Während ausgiebig vom Vergehen, vom Verfallen und Verrotten der physischen Bücher berichtet wird, von der Verwandlung der Seiten und Einbände zu Sumpfbestandteilen, stellt der Erzähler zugleich dar, wie sich der Inhalt erhält, wie das Orm, das verantwortlich ist für die Produktion dieser Bücher, unzerstört in einen anderen Organismus - hier: den Drachen - übergeht und dort aufs Neue wirksam ist, aufs Neue Texte hervorbringt.
"Jede meiner Schuppen war ein Vermögen wert, und ich besaß Tausende davon", sagt er. Der Buchling aber, der eine davon aus dem Sumpf rettet und fliehen kann, macht am Schluss eine weitere Metamorphose durch: Vom Leser, dessen höchstes Glück im Auswendiglernen bestand, wird er nun, was er eigentlich längst hatte werden wollen, allen Gepflogenheiten der Buchlinge zum Trotz: Er wird zum Erzähler seiner eigenen Geschichte.
TILMAN SPRECKELSEN
Walter Moers: "Der Bücherdrache". Roman.
Mit Zeichnungen des Autors. Penguin Verlag, München 2019. 192 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.